Sonntag, 20. Januar 2019

Schneewittchen, Großväterchen Lenin und Großmütterchen Vera


Ich bin heute weder zum evangelischen Gottesdienst noch in die Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft gegangen, weil ich mit Lena sein wollte. Sie hält mich nicht, aber ich spüre, dass sie das Wochenende gerne mit mir verbringen möchte, wenn wir schon in der Woche wenig Zeit füreinander haben, weil wir beide viel arbeiten müssen.
Die Geschichten aus ihrer Jugend, die mir Lena nach und nach erzählt, sind so interessant, dass ich ihr heute vorgeschlagen habe, einmal einen Vortrag darüber zu halten. Sie wehrte ab und erwiderte nur: „Wen interessiert das schon?“
Neulich sprachen wir über die sowjetischen Kindergärten. Die Kinder wurden dort vorbildlich versorgt, während beide Elternteile arbeiteten. Zwar frühstückten sie noch zu Hause, aber im Kindergarten gab es ein warmes Mittagessen, Milch und Obst – alles für 1 Rubel 60 in der Woche, also für 20 Kopeken pro Tag.
In der Mittagspause durften die Kinder schlafen. Dazu gab es Schlafsäle mit kleinen Betten. Betreut wurden die Kindergruppen mit 25 bis 30 Kindern von einer Erzieherin und mehreren „Nanjas“, also Helferinnen. Die Kinder konnten selbstverständlich auch draußen spielen, wo es auf den Spielplätzen zum Beispiel Holzhäuschen gab.
Alles fühlte sich an wie im Märchen von Schneewittchen. Es ist die Atmosphäre eines Zwergenreiches.
Allerdings hatte dieses Zwergenreich einen kleinen Schönheitsfehler: In jedem Essensraum hing ein großes Portrait von Djeduschka Lenin (Großväterchen Lenin). Den Kindern wurde erzählt, dass sie nur wegen ihm die glücklichsten Kinder auf der Welt seien und wie im Paradies wohnen würden. Jetzt würden alle zusammen, also die Kleinsten und die Großen, den Sozialismus bauen, später dann den Kommunismus. Dann erst würde es allen Menschen auf der Welt gut gehen, dann gäbe es keine Armen oder Reichen mehr, sondern alle Menschen wären gleich. Sie aber seien die Pioniere dieser zukünftigen Welt.[1]
Später in der Schule wurden die Kinder in die Gruppe der Jungen Pioniere aufgenommen, bekamen eine Uniform, ein rotes Halstuch und ein Käppi. In der Freizeit durften sie Krieg spielen. Natürlich ging es in diesen Kriegsspielen vorwiegend um den siegreichen Kampf der glorreichen Roten Armee gegen die Faschisten, die vor allem in Deutschland verortet wurden, auch wenn das nicht immer ganz deutlich gesagt wurde.
Als Lena auch Pionierin geworden war, ging sie ganz stolz zu ihrer Babuschka (Großmutter) und wollte ihr das sagen. Als sich Oma Vera, die 1920 als Don Kosakin in der Nähe von Rostow am Don geboren worden war, nicht wirklich darüber zu freuen schien und andeutete, dass Großväterchen Lenin nicht nur Gutes gemacht habe, fragte die kleine Lena weiter. Da brachte ihre Großmutter einen weiteren Namen ins Spiel, von dem Lena bis dahin noch nie etwas gehört hatte: Stalin. 
Großmutter Vera erzählte ihr, was sie als 13-jähriges Mädchen erlebt hatte: Eines Tages waren die Schergen Stalins in ihr Dorf am Don gekommen und hätten allen Kulaki die Häuser weggenommen. Als Kulaki bezeichneten die Bolschewiki die Kleinbürger und Bauern, die Privatbesitz hatten. Sie passten genauso wenig wie die Angehörigen der Aristokratie und der Bourgeoisie ins System des Sozialismus, wo es keine Besitzenden mehr geben durfte. Noch unter den Kulaki standen die Christiani, die Kleinbauern, denen nach der Abschaffung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. im Jahr 1881 ein eigenes Stückchen Land zugesprochen worden war.
Nachdem die Bolschewiki den Urgroßeltern von Lena das Haus im Jahre 1933 weggenommen hatten, gruben diese sich Löcher in die Erde und hausten dort ein Jahr lang, bis die Schergen Stalins wiederkamen und ihnen auch noch die Saat für die Felder wegnahmen, die Weinstöcke und Obstbäume fällten und die Felder verwüsteten. Das offensichtliche Ziel war es, die Kulaki verhungern zu lassen.
Plötzlich änderte sich die Politik noch einmal. Nun wurden Arbeiter gesucht, die in der kasachischen Steppe eine Stadt aufbauen und dort die Bodenschätze ausbeuten sollten. Die Großeltern Lenas wurden zusammen mit tausend anderen in Viehwaggons gesetzt und in mehrtägiger Reise nach Sibirien und nach Kasachstan gebracht. Die meisten hatten nichts zu essen und verhungerten schon während der Fahrt im Zug, viele andere  anschließend, nachdem sie mitten in der Steppe ausgesetzt worden waren. Lenas Urgroßvater hatte die gute Idee gehabt, sich selbst und seinen Kindern jeweils einen Kranz Zwiebeln um den Hals zu hängen. So überlebten sie. Zusammen mit den anderen Überlebenden kamen sie nach Karaganda, wo sie als Zwangsarbeiter Kohle und Erze aus den Gruben holen mussten, die für die sowjetische Schwerindustrie gebraucht wurden.
Nach und nach begriff das neugierige Mädchen, wie sehr die Utopie und die Realität des real existierenden Sozialismus auseinanderklafften.
Desillusioniert schaute sie schon früh nach dem Westen, was zunächst einmal DDR bedeutete. Sie hatte dort eine Brieffreundin und bekam hin und wieder ein Päckchen mit guter Schokolade oder mit Kleidern, die an Chic die Einheitskleidung des Sowjetmenschen weit in den Schatten stellten. So bekam die 1968 geborene Sozialistin Geschmack am Kapitalismus.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahre 1991 kam es unter Präsident Jelzin zu Mord und Totschlag in der ehemaligen Sowjetunion. Verschiedene Banden bekämpften sich. Verwandte und Bekannte von Lena wurden brutal ermordet, nachdem sie ihr Eigentum unter Folter den Kriminellen überzeichnet hatten. Es war die reine Anarchie. Dazu kam, dass die Minenarbeiter, Fabrikarbeiter und Angestellten mehr als zwei Jahre lang keine Löhne erhielten, weil der Staat zahlungsunfähig war. Wer einen kleinen Garten hatte, konnte überleben. Die anderen mussten auch kriminell werden. Sie machten für Geld alles, was man von ihnen verlangte. So wurden viele zu Killern. Diese selbst konnten allerdings auch nicht sicher sein, weil die Auftraggeber auch sie aus dem Weg räumen ließen, um die Spuren, die zu ihnen führen konnten, zu verwischen.
Viele dieser Kriminellen wurden damals in den weit verbreiteten Bandenkriegen getötet. Die brutalsten überlebten und machten ein Vermögen. Das sind die heutigen Oligarchen, die mit ihren Millionen überall in den reichen Ländern der Welt nur so um sich werfen.
Dass es vorwiegend „Blutgeld“ ist, scheint ihr Gewissen nicht weiter zu belasten.
Ich denke, dass ist die schlimmste Folge des siebzigjährigen sozialistischen Experiments: Der historische Materialismus, den sie von Kindesbeinen an aufgenommen haben, hat bei etlichen Menschen das Gewissen ausgelöscht. Oder aber es handelt sich bei diesen gewissenlosen Menschen um „Sorat-Menschen“, von denen Rudolf Steiner spricht:
„Sorat-Menschen werden äußerlich kenntlich sein, sie werden in furchtbarster Weise nicht nur alles verspotten, sondern alles bekämpfen und in den Pfuhl stoßen, was geistiger Art ist.“[2]
Lena arbeitete später als Bauingenieurin in einem Immobilienbüro, das von einem korrupten sowjetischen Juden geleitet wurde, der sie ebenfalls zu kleinen oder größeren Betrügereien, die damals üblich waren, verleiten wollte. Lena hat sich geweigert und hat gekündigt. Sie hat auf Anraten ihrer Mutter einen Russlanddeutschen geheiratet und ist 1993 ausgewandert.
Von ihrem Vater, der immer noch in Russland lebt, hat sie an Weihnachten erfahren, dass ihr ehemaliger Chef heute ein Bestattungsunternehmen hat und Millionär ist. Warum er so reich geworden ist, hängt damit zusammen, dass er als erster wusste, welche Immobilien frei wurden, wenn jemand gestorben war. Er kaufte sie billig und verkaufte sie teuer weiter.
Lena könnte heute reich und wohlhabend sein, wenn sie das Angebot angenommen hätte. 
Sie hat sich anders entschieden und ist heute „Reinigungskraft“ in reichen Haushalten. Tag für Tag darf sie die schönen Wohnungen putzen, von denen sie selbst immer geträumt hat.


[1] Hier sieht man, dass das „sozialistische Experiment“ ein Zerrbild der zukünftigen slawischen Kulturepoche war, von dem Rudolf Steiner spricht. Diese wird allerdings erst im vierten nachchristlichen Jahrtausend anbrechen und eine Kultur echter Selbstlosigkeit hervorbringen. Die New Ager irren sich auch, wenn sie meinen, das sogenannte „Wassermann-Zeitalter“, das auf das jetzige „Fische-Zeitalter“ folgt, sei jetzt schon angebrochen.
[2] R. Steiner (GA 346, 122f)


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