Samstag, 8. Dezember 2018

Die Dimensionen der Unendlichkeit - Peter Beckers Text über Simone Weil aus dem Jahr 1968 (Fortsetzung)


Ich wende mich wieder dem Text von Peter Becker zu, dessen Hauptgedanken mich in der Tiefe berühren, 50 Jahre nach seiner Entstehung. Jetzt erst fühle ich mich reif, um ihn zu verstehen und in mich aufzunehmen – voller Dankbarkeit gegenüber meinem verehrten Lehrer, zu dem ich leider den äußeren Kontakt verloren habe (durch die Arbeit an seinem Text versuche ich zumindest den geistigen Kontakt zu pflegen).
Peter Becker fährt fort:
„Nun nimmt sie also mit Thibon das Gebet des Herrn Wort für Wort durch – und führt ihn so zugleich ins Griechische des Neuen Testaments ein. Die beiden versprachen sich – es war im Sommer 1941 – das Gelernte jeweils sich auswendig einzuprägen. Nun folgt die mystische Erfahrung: als sie einige Wochen später im Evangelium blätterte, in das sie sich immer mehr vertieft hatte – da ‚hat die unendliche Süßigkeit dieses griechischen Textes (des Vaterunsers) mich derart ergriffen, dass ich einige Tage lang nicht umhin konnte, ihn mir unaufhörlich zu wiederholen‘. Eine Woche später begann sie als Winzerin auf den Gärten des Weinbauers Rieux in St. Julien de Peyrolas im Tal der wildverschlungenen Ardeche bei der Weinlese mitzuarbeiten. Unter den Weinstöcken liegend rezitierte sie beim Traubenschneiden (sie konnte sich bückend nicht mehr aufrecht halten) den heiligen griechischen Text – und von da an sprach sie Morgen für Morgen vor Arbeitsbeginn mit ‚unbedingter Aufmerksamkeit‘ (avec une attention absolue). Sie erfährt die außerordentliche Kraft dieser Übung – ‚sie übertrifft jedes Mal meine Erwartung‘. Was geschieht ihr, der leidenden Arbeiterin, die von echt jüdischer Glut des Glaubens erfüllt ist?“
Es berührt mich, dass es ausgerechnet eine Jüdin ist, die solche Erfahrungen machen darf. Gestern erfuhr ich bei einer Betrachtung zur „Wiederkunft Christi“ nach der Menschenweihehandlung, dass in der "Offenbarung" (Apok. 1, 7) steht, dass unter den Menschen, die den ätherischen Christus sehen werden (auf Wolken wiederkommend) auch diejenigen sein werden, die ihn „durchstochen“ haben. Damit können nur die Juden gemeint sein, die einst vor Pilatus gerufen haben: „Kreuzige ihn!“ In einer früheren „Betrachtung“ habe ich erfahren, dass man den Ausruf der Juden „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ auch so verstehen kann, dass der Christus auch ihnen „vergibt“, denn sie wussten nicht, was sie taten. Jesus von Nazareth musste ja sterben. Es musste folglich Menschen geben, die diese Tat zur Erlösung der ganzen Menschheit auslösten. Durch das Blut, das auf Golgatha vom Kreuze floss, sind nun auch die, die ihn „durchstochen“ haben, erlöst und werden ihn schauen, auf Wolken kommend, so wie es Simone Weil widerfahren ist.
Wenn Peter Becker in seinem Text erzählt, wie die jüdische Winzerin unter den Weinstöcken der Ardeche liegt, um die Trauben zu lesen, dann kann ich mir vorstellen, wie der „Wein“ auf ihr Gesicht und ihren ganzen Körper tröpfelt. Der Wein ist ja in der Eucharistie das Symbol für Christi Blut.
Der Text von Peter Becker geht weiter:
„Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe los und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Leibes und des Raumes, wo es weder Perspektive noch Blickpunkt gibt. Der Raum tut sich auf. Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten oder manchmal auch dritten Grades. Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, das nicht Abwesenheit von Klang und Ton ist, sondern vielmehr Gegenstand einer positiven Erfahrung, sehr viel positiver und wirklicher als die eines Klanges. Geräusche, wenn welche da sind, erreichen mich erst, nachdem sie durch dieses Schweigen hindurchgegangen sind.“
So beschreibt eine naturwissenschaftlich geschulte Intellektuelle sehr exakt ihre mystische Erfahrung. Das erinnert mich an die Beschreibung der Sphärenharmonien von Johannes Kepler, aber auch an den Klang-Äther, von dem Rudolf Steiner beim Aufstieg der Seele in höhere Welten bei der Schulung spricht. Erst gestern las ich darüber in seinem Mailänder Vortrag vom 21. September 1911 (GA 130):
„In unserer Kulturepoche, der fünften, die bis in das vierte Jahrtausend dauern wird, werden die Seelen allmählich geeignet sein, die Christus-Wesenheit auf dem astralischen Plan zu erleben, und auf dem Astralplan wird die Christus-Wesenheit schon in unserer Epoche vom zwanzigsten Jahrhundert ab in einer Äthergestalt so für die Menschen sichtbar werden, wie sie in der vierten Epoche auf dem physischen Plan in einer physischen Gestalt sichtbar war.“
Wenn Simone Weil von der Unendlichkeit außerhalb der Unendlichkeit des Raumes spricht und dann sogar noch zwischen einer Unendlichkeit ersten Grades und einer Unendlichkeit zweiten Grades unterscheidet, so kann man diese Erlebnisse besser verstehen, wenn man Rudolf Steiners Angaben zu den „höheren Plänen“ zur Hilfe nimmt. Der uns am nächsten stehende übersinnliche Plan ist der Astralplan, der unmittelbar an die physische Welt angrenzt. Ich denke, bei Ohnmachten oder im Traum erreichen wir diesen „Plan“. Darüber gibt es jedoch noch weitere „Dimensionen“. Rudolf Steiner nennt sie in guter theosophischer Tradition, die im Prinzip auf die Geistigkeit des Hinduismus zurückgeht, das „untere Devachan“ und das „obere Devachan“. Er sagt voraus, dass die Menschen, welche in der fünften Kulturepoche den ätherischen Christus auf dem „Astralplan“ wahrnehmen, ihn in der sechsten Kulturepoche auf dem Plan des unteren, in der siebten auf dem Plan des oberen Devachan erleben können werden. Simone Weil spricht von einer Unendlichkeit „zweiten und dritten Grades“. Sie meint damit vermutlich nichts anderes als diese höheren Ebenen, von denen der Geistesforscher Kenntnis hat.
Rudolf Steiner fährt fort:
„Um nun diese ganze folgende Kulturentwickelung, in die unsere Seelen hineinsteuern, zu verstehen, ist es gut, dass wir nun tiefer auf die Eigentümlichkeiten unserer Seele in den folgenden Inkarnationen eingehen. Heute, in unserer intellektuelleren Periode, stehen für alle Seelen Intellektualität und Moralität ziemlich nebeneinander. Es kann heute jemand ein sehr kluger Mensch sein und dabei unmoralisch, umgekehrt kann man sehr moralisch sein und gar nicht klug.“
Das ist eine zentrale Aussage, die ich immer wieder bestätigt finde. In anthroposophischen Einrichtungen von Behinderten bin ich oft auf Menschen gestoßen, die intellektuell nicht auf der Höhe, aber moralisch absolut integer sind, zum Beispiel Anita. Umgekehrt habe ich viele schlaue Menschen getroffen, die intellektuell fit sind, aber in ihrem Leben nicht umsetzten, was sie theoretisch postulieren. Dazu gehören für mich all diejenigen, die „theoretisch“ die Flüchtlinge willkommen heißen, aber nicht bereit sind, einen von ihnen bei sich aufzunehmen. Menschen, die schon heute beide Eigenschaften vereinen, gibt es allerdings auch. So kenne ich einige Frauen aus dem Freundeskreis Asyl, die sich engagiert um einzelne Flüchtlinge kümmern. Der evangelische Pfarrer Peter Becker gehörte ebenfalls dazu, und in noch viel größerem Maße die jüdische Philosophin Simone Weil, die er so bewundert, weil sie eine Seelenverwandte ist.
Rudolf Steiner fährt fort:
„In der vierten Kulturepoche hat ein Volk prophetisch herankommen sehen dieses Nebeneinanderstehen von Moralität und Intellektualität, und dieses Volk ist das althebräische Volk. Daher suchten die Glieder des alten hebräischen Volkes eine künstliche Harmonie herzustellen zwischen Moralität und Intellektualität, während zum Beispiel bei den Griechen eine mehr natürliche Harmonie dazumal bestand. Wir können heute aus den Dokumenten der Akasha-Chronik erkennen, wie die Führer des althebräischen Volkes diese Harmonie zwischen Moralität und Intellektualität herzustellen suchten. Sie hatten Symbole, die sie so genau kannten, dass, wenn sie diese Symbole in einer gewissen Weise anschauten und auf sich wirken ließen, eine gewisse Harmonie zwischen dem, was gut, was moralisch und was weise ist, hergestellt werden konnte. Diese Symbole trugen die priesterlichen Führer des althebräischen Volkes an der Brust. Das Symbolum für die Moralität hieß Urim, das Symbolum für die Weisheit Tummim.“
Bei Simone Weil wirkten die zweimal drei Bitten des Vaterunsers[1], von denen wir später hören werden, wie diese nach innen gekehrten Symbole Urim und Tummim.
Der Text von Peter Becker geht weiter:
„Durch das distanzierende Schweigen hindurch tritt der Christus auf sein Kind zu: ‚Mitunter auch ist während des Aufsagens der Christus in Person anwesend, jedoch mit einer viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, da er mich ergriffen hat.‘ Dies ist, was sie P. Perrin anvertraut – in der Ahnung ihres baldigen Todes (der nur wenig mehr als ein Jahr noch auf sich warten lassen sollte). ‚Dann schließlich‘, fügt sie gleichsam entschuldigend hinzu, ‚handelt es sich bei alledem nicht um mich. Es handelt sich nur um Gott. Ich habe keinen Teil daran.‘ Sie empfindet sich als Abfall, als missratenes Tongefäß, als Auskehricht und Ausschussware, als verschimmelndes Brot und hinwelkendes Laub, gar wie ein Insekt, das infolge seiner Mimikry von dem umgebenden Laub gar nicht mehr unterschieden werden kann. Vor Gott, der göttlichen Gegenwart des Christus, ist sie nichts. Sie ist weniger als der Sklave, der nur tut, was seine Schuldigkeit ist.“
(Ende zweite Seite)



[1] Simone Weil kennt nur sechs Bitten. In Wirklichkeit sind es aber sieben, wenn man die beiden letzten trennt: „Führe uns in der Versuchung“ (6) und „Erlöse uns vom Bösen“ (7). Simone Weil trennt hier nicht. Für sie gehören die beiden Bitten zusammen. So kommt sie zu ihrer Sicht, die zweimal sechs Bitten umfasst und damit die zwei Dreiecke des Hexagramms symbolisch nachzeichnet. Darauf werde ich später noch genauer eingehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen