Samstag, 8. Dezember 2018

Peter Becker über Simone Weil - ein Text aus dem Jahre 1968 (Fortsetzung)




Als ich mich vor einigen Tagen an Pfarrer Becker erinnerte, da war es mir einen Moment lang so, als habe ihn das Schicksal nur wegen F. und mir und vielleicht noch zwei oder drei anderen Menschen nach Ellwangen geführt. Ich war damals zu jung, aber ich habe es durchaus mitbekommen, dass ihn die Amtskirche nicht besonders mochte. Er war immer ein freier Geist und hat sich nichts vorschreiben lassen. Er hat seine Arbeit gemacht, ohne jemanden zu fragen. Eigentlich hätte er, seinem Wissen und seiner Begabung nach, in eine Universitätsstadt gehört. In Ellwangen hatte er ja kaum Publikum. Aber das schien ihm nicht wichtig zu sein.
Wenn ich jetzt angefangen habe, sein achtseitiges, gründlich recherchiertes Manuskript zu Simone Weils Vaterunser-Auslegung abzutippen, dann kann ich mir vorstellen, wie viele Stunden er daran gesessen hat, um es zu verfassen.
Ich nehme mir heute Morgen die Zeit, es weiter abzutippen:
„Simone Weil, die zuvor nie ‚die Möglichkeit einer wirklichen Berührung von Person zu Person zwischen Gott und dem Menschen‘ auch nur ins Auge gefasst hatte, erfährt sich bei der Rezitation des Gedichtes ‚Love‘ des englischen ‚metaphysischen‘ Dichters George Herbert (1593 – 1632) von Christus selber ergriffen: ‚Einmal ist … der Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen.‘ – Doch noch verharrt sie bei halber Weigerung, nicht der Liebe, wohl aber der Vernunft. Denn sollte man nicht – bis zuletzt – Gott ‚aus reiner Sorge um die Wahrheit‘ widerstehen? Simone Weil, die denkende Mystikerin, schreibt: ‚Der Christus liebt es, dass man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er der Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzufolgen, wird man nicht weit kommen, bis man in seine Arme stürzt.‘ – Simone Weil war zeit ihres Lebens der von ihr erkannten und ergriffenen Wahrheit gefolgt. Sie ging den modernen Weg der wahrhaftigen Redlichkeit bis zuletzt.“
Diese Zeilen erinnern mich an die Devise der Rosenkreutzer, an die Rudolf Steiner anlässlich der Einweihung des Christian-Rosenkreutz-Zweiges in Hamburg am 17. Juni 1911 (GA 130) erinnert:
„In dem Augenblicke, wo nur der Name des Christian Rosenkreutz genannt wird, vertritt man den Grundsatz: Keine Religion sei höher als das Streben nach Wahrheit.“
Diesen Vortrag las ich, angeregt durch den Film „Grand Canyon“, am 4. Dezember 2018, also erst vor wenigen Tagen.
Natürlich schließt sich daran die Frage an: War Simone Weil eine Rosenkreuzerin? Sie ist am 3. Februar 1909 in Paris geboren und war 1937 bei ihrer ersten Christusbegegnung in Assisi gerade 28 Jahre alt, also noch nicht einmal 30.
Pfarrer Becker schreibt weiter:
„Auf diesem Weg unbedingter Wahrhaftigkeit begegnet ihr der Christus, heraustretend aus der Wahrheit. In diesem von ihr ungesuchten Lichte erkannte sie Platon als einen Mystiker, den sie bei ihrem berühmten Lehrer Alain immerhin als eine der Leuchten der Philosophie, des höchsten Preises wert, kennengelernt hatte.“
Das ist wieder solch ein versteckter Hinweis, den man nur mit geisteswissenschaftlicher Schulung richtig einordnen kann. Platon war der große Lehrer des Aristoteles. Er lehrte vermutlich als Alain de Lille (Alanus ab Insulis) auch an der Kathedralschule von Chartres, die zumindest als „platonische Schule“ gilt, während die später kommenden Dominikaner um Albertus Magnus und Thomas von Aquin eher in der aristotelischen Tradition standen.
Bei dem Philosophen Alain handelt es sich um Emile-Auguste Chartier[1], einen französischen Denker und Journalisten, der von 1868 bis 1951 lebte. Der Name „Alain“ ist eines seiner vielen Pseudonyme. Zuvor nannte er sich unter anderem nach einem Dialog von Platon auch „Criton“. Er lehrte eine Zeitlang in Lorient in der Bretagne, wo mein Vater während beziehungsweise nach dem Krieg für den Minenräumdienst der Marine stationiert war, später in Rouen und ab 1909 in Paris am berühmten Lycee Henri IV.
Ich hatte bis heute noch nie etwas von „Alain“ gehört, musste aber beim Abtippen dieses Namens sofort an Alanus ab Insulis denken, der auf Französisch Alain de Lille heißt.
Peter Becker fährt fort:
„Die Ilias schaut sie von christlichem Lichte durchflutet. Ja, sie empfand, dass Dionysos und Osiris in gewisser Weise der Christus selber sind – und meine Liebe (zu ihm) wurde hierdurch verdoppelt‘ (an Perrin)“
Hatte ich nicht erst gestern Rudolf Steiners Hinweis aufgegriffen, dass der Christus als Sonnenwesen bereits in allen nachatlantischen Kulturepochen geschaut werden konnte? Ich will hier die entsprechende Stelle aus dem Vortrag vom 19. September 1911 wörtlich zitieren:
„Während wir in der Buddha-Strömung, wie in jeder anderen, eine solche haben, die uns alle als Menschen betrifft, haben wir in der Christus-Wesenheit einen kosmischen Einschlag. Alle Bodhisattvas gehören zu den Individualitäten, die das Leben hier auf Erden durchmachen, gehören zur Erde. Die Christus-Individualität kommt von der Sonne und betritt die Erde erst mit der Johannestaufe, sie ist nur während drei Jahren in dem physischen Leibe des Jesus von Nazareth. Das Charakteristische dieser Christus-Individualität ist, dass es ihr bestimmt ist, nur während drei Jahren in der irdischen Welt zu wirken. Es ist dieselbe Wesenheit, auf die der Zarathustra hinwies, indem er sie den Ahura mazdao nannte, der hinter der sichtbaren Sonne steht, dieselbe, von der die heiligen Rishis kündeten, und von der die Griechen sprachen als von der Wesenheit, die dem Pleroma zugrunde liegt. Es ist die Wesenheit, die nach und nach zum Geiste unserer Erde geworden ist, zur Aura unserer Erde, seitdem ihr Blut auf Golgatha geflossen ist. Der erste, der sie so sehen durfte, dass er nicht unmittelbar durch das physische Ereignis dazu angeregt war, das war Paulus.“ (Vortrag vom 19.September 1911 in Locarno, GA 130, S 36)[2]
Ich fahre fort mit dem Text von Peter Becker. Je mehr ich mich mit ihm beschäftige, desto interessanter finde ich ihn:
„Dennoch leistete sie Gott noch Widerstand: ‚Niemals legte ich mir die Frage vor, ob der Christus eine Inkarnation Gottes sei oder nicht‘ – aber in der Liebe unterliegt sie dennoch: ‚…aber in der Tat war ich außerstande, an ihn zu denken, ohne ihn als Gott zu denken‘. – Als sie dann noch zur Lektüre der indischen sakralen epischen Dichtung Bhagavad-Gita kam, wurde ihr auch hier Gottes Inkarnation (in der Gestalt des Gottes Krishna, der zu Arjuna redet) deutlich.“
Nun schwenkt Pfarrer Becker an der Hand von Simone Weil zu seinem zweiten großen Thema, dem Hinduismus beziehungsweise Buddhismus über, indem er auf die heiligen Schriften der Inder hinweist, die Simone Weil, die extra Sanskrit gelernt hatte, im Original lesen konnte.
„Simone Weil erkannte die besondere Zustimmung, die wir gemeinhin der religiösen Wahrheit schuldig sind. – Aber noch weigert sie sich der Eröffnung der wesenhaft-lebendigen Gottesgemeinschaft, dem Gebet.“
Das sind Formulierungen, die von einem unglaublich tiefen spirituellen Verständnis zeugen, wie ich es bisher nur bei Rudolf Steiner gefunden habe. Mit dem letzten Satz endet die erste von insgesamt acht eng beschriebenen Seiten des Manuskripts. Zum ersten Mal wird hier mit dem Wort „Gebet“ auf das eigentliche Thema hingewiesen, nämlich auf Simone Weils Vaterunser-Auslegung.
Dennoch bleibt Peter Becker zunächst noch bei der Biografie der französischen Mystikerin und schreibt:
„Simone Weil, unterdessen in die freie Zone ihres französischen Vaterlandes geflohen, hatte mit Hilfe der Dominikaner in Marseille Beschäftigung als Landarbeiterin auf der Ferme des Dichters und Philosophen Gustave Thibon in St. Marcel d’Ardeche im unteren Rhonetal gefunden. Dort arbeitete sie in den Weingärten unerkannt unter den Saisonarbeitern bis zur physischen Erschöpfung ihrer sowieso labilen Gesundheit. Sie lehnte eine Unterkunft im Bauernhaus der Thibons ab und nächtigte stattdessen im verfallenden ‚Haus der vier Winde‘ über dem Flusstal mit einem herrlichen Ausblick auf die unabsehbaren Fruchtgärten des Tales. Im Hintergrund hebt sich der ‚Zeugenberg‘ der Provence, der altehrwürdige Mont Ventoux aus der Ebene.“
Peter Becker schildert die Landschaft und die Natur so, als wäre er bei einer Reise auf den Spuren von Simone Weil selbst einmal dort gewesen. Diese Schilderung erinnert mich wieder an die Worte Rudolf Steiners zu Beginn seines Locarner Vortrages:
„Entweder weiß der Mensch oder er ahnt es, dass in allem, was uns als Natur, als Wald und Gipfel, als Wetter und Gewittersturm umgibt, eine Geistigkeit waltet, die, nach dem Ausspruche einer bedeutenden Persönlichkeit des Abendlandes, schon eine Geistigkeit ist, welche konsequenter ist als das Handeln und Fühlen und Denken des Menschen. Die Ahnung muss uns ja überkommen, dass in alledem, was uns so umgibt als Wald und Gipfel, Berg und See, der Geist spricht. Und in der Geisteswissenschaft werden wir ja immer mehr und mehr gewahr, wie aus allem, was uns in der Natur umgibt, aus allem, was uns als fester Boden trägt, das, was daraus spricht, Geist ist.“ (Rudolf Steiner am 19.09.1911 in Locarno, GA 130)
„Simone Weil war ihren Gastgebern eine unbequeme und eigenwillige Heilige. Aber bald überzeugte sie Gustave Thibon durch ihre immense und tiefgründige Spiritualität nicht nur vom Recht, sondern auch der Notwendigkeit ihres Lebensstiles und versöhnte sie durch Öffnung ihres Inneren den bekannten katholischen Denker auch mit ihrer hartnäckigen Weigerung, die Schwelle der Kirche (in der Taufe) zu überschreiten. Des Abends, auf der Steinbank vor der Ferme an der alten, jetzt versiegten Quelle, führte sie Thibon in das sprachliche und darauf folgend in das mystische Verständnis des Vaterunsers ein. Später schreibt sie an ihren Seelenführer, den Pater Perrin: ‚Niemals hatte ich mich laut oder in Gedanken nur mit Worten an Gott gewandt. Niemals hatte ich – sie besuchte schon seit Jahren hin und wieder die Messe – ein liturgisches Gebet gesprochen (- auch während der Karwoche in Solesmes war sie also nur passive Zuhörerin gewesen -). Hin und wieder kam es wohl vor, dass ich vor mir selbst das Salve Regina aufsagte, doch nur als schönes Gedicht‘ (vierter Brief an Perrin von Mitte Mai 1942).“

Salve Regina
mater misericordiae;
Vita, dulcedo et spes nostra, salve.
Ad te clamamus, exsulses filii Hevae
Ad te suspiramus,
Gementes et flentes in hac lacrimarum valle.
Eia ergo, Advocata nostra
ilos tuos misericordes oculos
ad nos converte.
Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.

(Sei gegrüßt, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit
Unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt
Zu die rufen wir, die verbannten Töchter Evas;
Zu dir seufzen wir
Trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsere Fürsprecherin
Wende uns deine barmherzigen Augen zu
Und zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes
Nach dieser Verbannung.)


[2] Eben fällt mir ein, dass ich Peter Becker zum ersten Mal in einem Tagebucheintrag vom 18. September 1968 erwähnt habe (siehe dort). Das sind 57 Jahre, also etwa drei Mondknoten nach Rudolf Steiners Vortrag vom 19. September 1911).

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