Donnerstag, 29. August 2019

Welches Deutschland?




Ich leide im Grunde immerzu an Deutschland. Ich habe das Gefühl, dass das Beste, was Deutschland ausmacht, ständig verkannt oder nicht erkannt wird. Eine Ausnahme waren meine französischen Freunde Claude und Francis am vergangenen Sonntagnachmittag. Immer noch beschäftigt mich das Gespräch, das für mich der Höhepunkt der Reise war.
Genauso wie Deutschland verkannt wird, so wird auch Russland verkannt.
Wieder einmal wird mir klar, dass ohne die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ein tieferes Eindringen in die wahre Völkerpsychologie und die geistige Mission Deutschlands und Russlands (und natürlich auch Englands und Amerikas) gar nicht möglich ist.
Wenn unsere Historiker und Politiker jetzt wieder an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vor genau 80 Jahren erinnern und dabei nur die böse Seite Deutschlands herausstellen, dann tut mir das tief in der Seele weh. Natürlich gab es furchtbare Verbrechen, die von deutscher Seite damals begangen wurden. Natürlich hatte ein böser Geist die Politiker des Dritten Reiches ergriffen. Aber dieser Geist hat nie und nimmer etwas mit dem „Heiligen Deutschland“ zu tun, von dem ich spreche.
Aber wo lebt dieses Heilige Deutschland noch, das durch Geister wie Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe repräsentiert wird?
Gestern wurde genau in der Zeit, in der ich von Schwäbisch Hall nach Rechenberg fuhr, um das Grab meiner Mutter zu gießen und anschließend meinem Sohn beim Aufräumen der Garage zu helfen, eine SWR2-Wissen-Sendung vom 22. Juni 2017 wiederholt, die sich mit dem „Bildungsideal Wilhelm von Humboldt“ (1767 – 1835) beschäftigte[1]. Da war ich wieder ganz bei meinem Thema. Hier erkannte ich eine verwandte Seele, die mir mit jedem Wort aus dem Herzen sprach. Als ich dann auch noch erfuhr, dass der ältere Bruder von Alexander von Humboldt am gleichen Tag wie meine Enkeltochter Anneliese, die den Namen meiner Mutter trägt, geboren wurde, also am 22. Juni, dann war ich wieder ganz wach, obwohl meine Gedanken noch an der Trilogie hingen, die ich in den vergangenen Tagen auf meinem Weblog veröffentlicht hatte. Den dritten Text hatte ich noch am Morgen verfasst und noch vor der Abfahrt ins Netz gestellt: „Sapere Aude – Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“[2]
In der Sendung hörte ich so schöne Sätze, die Wilhelm von Humboldt aufgeschrieben hat, wie:
„Der wahre Zweck des Menschen... ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen.“
Hier finde ich wieder den wahren Geist der Aufklärung, dem ich bereits in Langres im „Maison des Lumieres“ begegnet war und ich stoße auf einen Franzosen, der lange Zeit mit Denis Diderot eng befreundet war, auf Jean Jacques Rousseau. Die Humboldts hatten einen ganz besonderen Hauslehrer, den ersten Jugendbuchautor und Philanthropen Johann Heinrich Campe. Sein Buch „Robinson, der Jüngere“ war eine jugendgerechte Bearbeitung des Romans des englischen Schriftstellers Daniel Dafoe. In dem SWR2-Beitrag heißt es:
„Philanthropen oder ‚Menschenfreunde‘ nannten sich die Anhänger einer pädagogischen Reformbewegung, inspiriert vom französischen Philosophen Jean Jaques Rousseau und seinem Erziehungsroman ‚Emile‘. Man wollte vor allem die Lernfreude der Kinder wecken. Kindgerecht sollte die Erziehung sein, naturnah und freundschaftlich statt autoritär. Das richtet sich gegen die hergebrachte Strafpädagogik, aber auch gegen den erbarmungslosen Drill vieler Kinder zu kleinen Erwachsenen, der je nach gesellschaftlichem Stand auf einer Ritterakademie oder Offiziersschule stattfand, in einer Buchbinderwerkstatt oder Kirchensakristei, auf dem bäuerlichen Feld oder in der Webstube.“
Professor Jürgen Overhoff von der Universität Münster erläutert:
„Das Neue und Interessante an Campes Pädagogik ist, dass er versucht hat, ein Gespräch zuzulassen zwischen Lehrern und Schülern. Dass er die Schüler animiert hat, auch dumme Fragen, naive Fragen zu stellen, die er nicht zurückgewiesen hat, aber sie sollten mit dem Lehrer in ein Gespräch kommen, von sich aus mit ihren Fragen sich Stück für Stück der Beantwortung eines Problems nähern, um die Welt eigenständig begreifen zu lernen.“
Hier werden genau die Methoden oder Prinzipien ausgesprochen, die mich auch bei meinem Unterricht immer geleitet haben: erstens, man sollte Schüler nicht mit Antworten auf Fragen, die sie gar nicht (gestellt) haben, belästigen und zweitens: Es gibt keine dummen Fragen – nur dumme Antworten.
Leider widerspricht unser Schulsystem diesen beiden Grundsätzen bis heute – trotz Humboldt.
Ich hatte am Mittwochnachmittag eine Unterredung mit meinem Chef in Kirchberg. Wir waren uns in allen Punkten einig und ich fühlte mich verstanden. Der Unterricht im Intensivkurs ging auch ohne mich voran und wird heute mit dem B-1-Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) beendet. Noch einmal standen uns die ungefähr 30 jungen Menschen vor Augen, die ich alle noch einmal nach ihren Leistungen zu Beginn des Kurses nach einem 15-Punkte-System zu beurteilen hatte. Ich war am 15. August ausgefallen, weil ich vollkommen erschöpft war.

Am Mittwochabend hatte ich spontan die Idee, Olga und ihren Sohn Mischa zum großen "Indianertreffen" auf dem Hasenbühl mitzunehmen, das dort wie jedes Jahr stattfindet. Natürlich sind es keine richtigen Indianer, sondern Weiße, die sich in Clubs vereinigen, um die indianische Kultur zu studieren und zum Teil zu praktizieren, ganz ähnlich wie der Ellwanger Indianerklub „Oglala“, in dem ich als Junge selbst einmal war. Mischa, der leider oft den ganzen Tag in der Wohnung verbringt und viele Stunden nur mit seinem Tablet beschäftigt ist, war ganz froh. Er bekam einen Holzbogen, eine Panflöte und eine Trommel geschenkt. Besonders der Bogen interessierte ihn und der knapp Fünfjährige entwickelte erstaunlich schnell die Fingergeschicklichkeit, den Pfeil einzulegen, den Eschenbogen zu spannen und den Pfeil immer weiter zu schießen.
Ich habe bei dieser Gelegenheit den Pädagogen in mir aktiviert, der eigentlich immer in meiner Seele anwesend ist.
In einer anderen Ecke meiner Seele lebt der Historiker. So habe ich gestern tatsächlich begonnen, Renate Riemecks Büchlein „Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts“ zu lesen. Ich hatte es schon mehrmals begonnen, aber wohl nie ganz zu Ende gelesen.
Wieder stand mir bei der Lektüre die ganze Tragik meines geliebten Heimatlandes vor Augen, insbesondere, als ich die Passagen im 3. Kapitel („Bismarck – Größe und Verhängnis Deutschlands?“) las. Ich erinnerte mich dabei an den Geschichtsunterricht, den ich im Herbst 1986 in der 12. Klasse der Ecole Rudolf Steiner in Verrieres geben durfte, der mir recht gut gelungen war, was auch daran lag, dass ich eine sehr interessierte Klasse hatte. Damals zeigte ich meinen Schülern zwei Fotos: dasjenige des Prinzen von Baden, Kaspar Hausers und das Foto des jungen preußischen Junkers Otto von Bismarck. Die Schüler waren erstaunt über die Ähnlichkeit, aber auch über die Unterschiedlichkeit der beiden Individualitäten, die ich in den Mittelpunkt meines Unterrichtes stellte. Von diesen beiden Menschen gingen zwei geistige Strömungen aus, die über Wohl und Wehe Deutschlands entscheiden sollten. Da lese ich zum Beispiel bei Renate Riemeck den Eintrag, den der preußische Kronprinz und spätere Kaiser Friedrich III. am 31. Dezember 1870 während des Feldzuges gegen Frankreich in sein Tagebuch geschrieben hat:
„Zur Stunde will es scheinen, als seien wir weder geliebt noch geachtet, sondern lediglich gefürchtet. Man hält uns jeder Schlechtigkeit für fähig, und das Misstrauen gegen uns steigert sich mehr und mehr. Das ist nicht die Frage dieses Krieges allein – so weit hat uns die von Bismarck erfundene und seit Jahren in Szene gesetzte Theorie von ‚Blut und Eisen‘ gebracht! Was nützt uns alle Macht, aller kriegerischer Ruhm und Glanz, wenn Hass und Misstrauen uns überall begegnen, wenn man jeden Schritt uns argwöhnisch missgönnt, den wir in unserer Entwicklung vorwärts tun? Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde, die Sympathien der Welt und – unser gutes Gewissen.
Ich beharre noch heute fest bei der Einsicht, dass Deutschland ohne Blut und Eisen, allein mit seinem guten Recht, moralische Eroberungen machen und einig, frei und mächtig werden könne. Dann erlangte es ein ganz anderes Übergewicht als lediglich durch die Gewalt der Waffen, weil deutsche Kultur, deutsche Wissenschaft, deutsches Gemüt uns Achtung, Liebe – und Ehre eintragen. Der kühne gewalttätige Junker hat es anders gewollt. (…) Unsere Zukunft bleibt die schöne, aber unendlich schwere Aufgabe, das teure Vaterland von dem falschen Verdacht zu befreien, mit dem die Welt es heute betrachtet. Wir müssen zeigen, dass die gewonnene Macht nicht Gefahren erzeugt, sondern Segen spenden soll, den Segen des Friedens und der Kultur. Aber wie schwierig wird es sein, die blinde Anbetung der rohen Gewalt und des äußeren Erfolgs zu bekämpfen, die Gemüter aufzuklären, Ehrgeiz und Wetteifer wieder auf schöne und gesunde Ziele zu lenken.“ (Riemeck, Fischer Taschenbuch, 1983, S. 36)
Gott sei Dank haben die meisten Deutschen durch die bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege die „Anbetung der rohen Gewalt“ inzwischen „eingestellt“. Aber wie steht es mit der „Anbetung des äußeren Erfolges“?
Deutschland ist nach der Wiedervereinigung vor 30 Jahren die stärkste Wirtschaftsmacht Europas geworden und steht nach Amerika  an zweiter Stelle in der Welt. Selbst US-Präsident Trump kann sich seiner Bewunderung für die deutsche Wirtschaftskraft nicht ganz entziehen und betonte am Sonntagnachmittag im Gespräch mit der Bundeskanzlerin beim G-7-Gipfel in Biarritz, dass auch er „deutsches Blut in seinen Adern“ habe. Er versprach, Deutschland den bisher vermiedenen  Staatsbesuch abzustatten.
Deutschland könnte im Verein der Völker heute wieder eine wichtige Rolle spielen, wenn es auch seine geistige Kultur wieder zum Leuchten brächte.
Renate Riemeck schreibt:
„Bismarck hat Goethe einmal eine ‚Schneiderseele‘ genannt, und deutlicher als vieles andere kann diese Äußerung den großen Abstand gewahr werden lassen, der den Gründer des deutschen Einheitsstaates von den Werten des deutschen Geisteslebens trennte. Es mag deshalb die Frage gestattet sein, ob sich in die allgemeine Ablehnung der ‚bismarckdeutschen‘ Ära nicht auch die verborgene Enttäuschung der anderen Völker über die Entwicklung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemischt hat. Jedenfalls sollte es uns zu denken geben, dass Jurii Samarin, einer der großen Repräsentanten der russischen ‚Slawophilen‘, kurz vor seinem Tode (1876) die erschütternde Bemerkung machte, Deutschland sei in seiner Jugend eine Hoffnung für jeden gebildeten Russen gewesen, ‚an der man lange gesogen hat‘, umso größer aber sei jetzt sein Schmerz, dass dieses Deutschland unter dem Einfluss nationalistischer und positivistischer Gedanken aus dem Westen zu ‚verschwinden‘ beginnt.“ (a.a.O. S 43)

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