Freitag, 10. Januar 2020

Biografische Notizen



Justitia auf dem Frankfurter Römerplatz


Ich bin mit einem merkwürdigen Traum aufgewacht: Ich träumte, dass ich in einem Raum stand und auf die Vollstreckung meines Todesurteils wartete, umgeben von vielen Menschen und begleitet von meiner Verteidigerin. Ich sollte wegen Ketzerei enthauptet werden.
Obwohl meine Verteidigerin noch mit den Verantwortlichen redete, weil sie den Grund für das Urteil für eine Bagatelle hielt, kam der Henker mit einem riesigen, metallischem Beil und einer silbern glänzenden Zug-Säge herein. Ich dachte nur daran, dass der ganze saubere Raum nach der Hinrichtung voller Blut sein würde und überlegte, wofür wohl die Säge mit ihren überdimensionalen Zähnen gebraucht würde, die man in früheren Zeiten benützte, um Bäume der Länge nach aufzuspalten, wobei an jedem Ende ein Mann zog oder schob. Es wurde mir nach und nach klar, dass sie wahrscheinlich zum Einsatz käme, wenn der Henker es mit dem Beil nicht auf Anhieb schaffte, den Kopf vom Rumpf zu trennen. Ich wartete ruhig, gelassen und ohne Angst, während meine Verteidigerin bis zum Schluss für mich kämpfte. Ich hatte mich bereits in mein Schicksal ergeben.
Der Traum hängt sicherlich mit meinen Gedanken vom gestrigen Abend zusammen, die ich mal wieder auf Facebook veröffentlichen musste. Ich weiß auch nicht, was mich ständig dazu treibt. Ist es der Wunsch, endlich Gerechtigkeit zu erlangen? Hoffe ich unterbewusst darauf, dass es einer der Verantwortlichen liest?
Die überstürzte Kündigung in Verrieres im November 1986 hatte verheerende Folgen. Wir waren mit unseren drei Kindern und mit wenig Geld nach Wettolsheim bei Colmar umgezogen, weil ich engagiert worden war, an der jungen Colmarer Waldorfschule mitzuhelfen, die Oberstufe aufzubauen. Dazu hatte ich ja die Vertretung in Verrieres angenommen, um erste Erfahrungen in einer französischen Waldorfschule zu machen. Ich hatte mich, trotz der Sprache und der Großstadtschüler, schließlich ganz tapfer gehalten, bis der Schock mit meinem verbalen Ausrutscher (die Ketzerei) kam.
Ich glaube, nie zuvor und nie danach wurde ein Lehrer so schnell gekündigt, wie ich an diesem Tag: am Vormittag hatte ich – ohne mir dabei etwas zu denken – im Unterricht die fatale Äußerung gemacht, die mir vollkommen spontan aus dem Mund gerutscht war. Am Abend war die Konferenz, und mein Gastspiel war beendet.
Natascha Werner, die Ex-Frau von Uwe Werner, für den ich eingesprungen war, und die ebenfalls unter der Schule, an der sie lange Lehrerin[1] war, gelitten hatte, versuchte, mich zu überreden, vor Gericht zu gehen. Ich lehnte es ab, gegen meine „Brüder“ zu prozessieren und der Schule damit zu schaden. Die Folge war: auch meine Mitarbeit an der Schule in Colmar wurde gekündigt. Die drei Jahre von November 1986 bis Juni 1989 waren ein einziger Versuch, wieder Fuß zu fassen, um die Familie ernähren zu können.
Wir zogen nach Ludwigsburg, wo ich an der Waldorfschule eine Klasse übernahm. Auch das ging schief, weil die Lehrer meinten, ich sei in der Langenstein-Sekte und würde einen fremden Geist in die Schule bringen. Auch an dieser Schule wurde mir mitten im Schuljahr gekündigt. Die Klasse, in der auch meine Tochter Raphaela war, musste noch sechs Mal den Lehrer wechseln, nachdem ich gegangen war.
Es war wohl eine Kettenreaktion.
Damals habe ich begriffen, dass die Waldorfschule mich nicht will, zumal da mein Tutor, Martin Keller[2], der Ludwigsburger Gründungslehrer, mir vertraulich sagte, ich bräuchte mich gar nicht mehr an einer anderen Waldorfschule zu bewerben, zumindest nicht in Süddeutschland. Dass ich dann doch noch an einer weiteren Waldorfschule (Schloss Hamborn) unterkam und schließlich für ein paar Stunden in der Waldorfschule Schwäbisch Hall unterrichtete, waren dann noch weitere Versuche, meinen Idealen (und meiner Überzeugung) treu zu bleiben.
Schwäbisch Hall hätte mich im Jahr 2000 gerne übernommen, aber ich entschied mich nach allem, was ich mit Waldorfs bisher erlebt hatte, für eine angebotene Springerstelle am Gymnasium, nachdem  mir das Oberschulamt eine Übernahme zugesichert hatte. So landete ich im Herbst 2001 schließlich am Peutinger Gymnasium in Ellwangen, also an der Schule, an der ich 1972 mein Abitur abgelegt hatte.
Woran ich mich gestern erinnerte, war ein Zusammenhang, den ich noch nie so gesehen hatte. Als ich am 25. Januar 1986 in Verrieres mit dem Unterricht begann, passierte nur wenige Tage später in der äußeren Welt eine Katastrophe: Das Space-Shuttle „Challenger“ explodierte mit sieben Astronauten an Bord spektakulär am blauen Himmel von Florida. Als ich 15 Jahre später, im September 2001 im Peutinger Gymnasium begann, passierte wieder eine welterschütternde Katastrophe. Ich hatte gerade in einer siebten Klasse mit dem Deutschunterricht begonnen, als ich am Nachmittag von der Attacke auf das New Yorker World-Trade-Center hörte.
Natürlich gibt es keinen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen meinen Erlebnissen und diesen Ereignissen. Und trotzdem sind beide für mich wie Landmarken, die mir zwei bedeutende Wendepunkte in meiner Biographie anzeigen: Im Januar 1986 war ich 33, im September 2001 49 Jahre alt.

Wie ein Film laufen im Augenblick die Erlebnisse und vor allem die Menschen, die ich 1986 getroffen habe, vor meinem inneren Auge ab. Ich kann es fast nicht stoppen. Es ist eine grandiose Rückschau auf mein Leben, vielleicht so, wie man sie hat, wenn man stirbt. Im Traum wurde die Hinrichtung nicht vollzogen. Ich war kurz zuvor gnädigerweise aufgewacht. Aber eine Rückschau setzte dennoch ein.
Wenn ich die Menschen, die ich während des knappen Jahres in Paris getroffen habe, Revue passieren lasse, so gibt es eigentlich nur eine Frau, von der ich mich in der Tiefe wahrgenommen fühlte.
Mit einigen Kollegen hatte ich zum Teil tiefere Kontakte, so zu Franz Klockenbring, Monsieur Micol und Bodo von Plato. Mit ihnen kam es zu schönen Gesprächen, aber verstanden habe ich mich nicht gefühlt. Franz Klockenbring war nett, aber wegen seiner großen Verantwortung für die Schule extrem gestresst. Monsieur Micol war freundlich, aber in der Tiefe zu "französisch". Bodo von Plato war bereit, mich zu empfangen, aber zu sehr von sich selbst überzeugt.
Außerhalb der Schule hatte ich in meiner Vermieterin, Madame Proutschenko, eine gute Gesprächspartnerin. Ich war für sie aber im Wesentlichen nur ein interessierter Zuhörer, dem sie das Herz ausschütten konnte.
Die einzige, von der ich mich in der Tiefe wahrgenommen fühlte, war die inzwischen verstorbene Christengemeinschaftspriesterin Marie-Francoise Cuvillier.
So ging es mir im Prinzip an allen Waldorfschulen, an denen ich gearbeitet habe. Wahrgenommen in meinen wahren Impulsen fühlte ich mich nicht. Die Kollegen entdeckten jedoch schon bald meine Schwächen.
Ich war jung, unerfahren und mit Sicherheit ein wenig naiv, oder, wie es die Gräfin Nita de Pierrefeu einmal formulierte, als wir uns im Sommer 1973 in Montsegur Village begegneten: „Oh, le jeune romantique allemand!“
Besser war es später mit einigen Kollegen am Gymnasium.
Peter Selg schreibt in seinem Büchlein „Die Identität der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“:
„Betroffen hatte Rudolf Steiner in den Jahren vor dem Brand des Goetheanums miterlebt, wie arrogant die Anthroposophische Gesellschaft insgesamt mit jungen Menschen umgegangen war, die sich aufgrund ihrer existentiellen Kriegserlebnisse und der von ihnen begrüßten sozialen Dreigliederung für die Anthroposophie und ihre Gesellschaft interessiert hatten. Viele, ja die Mehrheit dieser jungen Menschen, waren von der Anthroposophischen Gesellschaft, ihrem Habitus und ihren Arbeits- und Sozialformen mehr als befremdet, ja teilweise geschockt worden, wie sie Rudolf Steiner persönlich berichteten. ‚Sie haben eigentlich das Anthroposophische gesucht, haben es aber nicht gefunden. Sie haben höchstens gefunden: Ja, wenn du richtiger Anthroposoph sein willst, dann musst du an den Ätherleib und an die Wiederverkörperung glauben und so weiter‘“ (Rudolf Steiner, GA 257). Rudolf Steiner verstand völlig, wie abgestoßen die jungen Menschen sich vom ‚Reden über den Geist‘ statt einem wirklich geistvollen Sprechen und Handeln fühlten und wie intensiv sie erlebten, dass im Wesentlichen ‚Gedankenimitationen‘ aus dem Werk Rudolf Steiners in den Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft zirkulierten, Begriffe und Gedanken, die nicht verinnerlicht und tatsächliches Erlebnis und Entwicklungsferment der Individualität geworden waren." (op. cit. S 21)



[1] Die Tochter der Russin Madame Proutschenko, in deren Haus ich wohnen durfte, hat unter anderen die Söhne von Jean-Paul Belmondo und Serge Reggiani unterrichtet.
[2] Der inzwischen verstorbene Gründungslehrer der Ludwigsburger Waldorfschule war in einem Stuttgarter Gymnasium Klassenkamerad von Markus Wolf, dem späteren Geheimdienstchef der DDR gewesen, und die beiden korrespondierten auch in all den Jahren freundschaftlich miteinander, wie er mir erzählte. Außerdem war er mit dem Fontane-Forscher Dirk Mende verwandt.

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