Sonntag, 13. Oktober 2019

Der Attentäter - Versuch einer Deutung




Gestern erhielt ich nach langer Zeit wieder eine Ausgabe des „Spiegel“ ins Haus geschickt. Ich hatte ein Angebot wahrgenommen, durch das ich zehn Nummern für nur 34.00 Euro lesen darf.
Die Ausgabe Nr. 42 vom 12.10.2019 zeigt einen Davidstern aus Holz auf weißem Grund, in dem sich sieben Einschusslöcher befinden. Die Unterschrift lautet: „NIE WIEDER? Das Attentat von Halle und der alltägliche Judenhass in Deutschland“.
Die beiden Beiträge zum Titel beschreiben im Empörungsmodus den angeblich zunehmenden Judenhass in Deutschland und der Welt. Dabei wird mit Statistiken gearbeitet, die wenig durchsichtig sind. Man weiß nicht, welche Straftaten gemeint sind, wenn von einer Zunahme von 19 % vom Jahr 2017 zum Jahr 2018 berichtet wird. In Deutschland gibt es augenblicklich lediglich einen Anteil von 0,2 % Juden, also ein verschwindend kleiner Teil gemessen an der Gesamtbevölkerung. Wenn es heißt, dass die Zahl der Straftaten gegen Juden „seit Gründung der Bundesrepublik in die Zehntausende" gehe, so werden damit „Sachbeschädigungen, Brand- und Sprengstoffanschläge auf Synagogen und Gedenkstätten, Schändungen jüdischer Friedhöfe, Körperverletzungen und  - oft  vergessen – auch Morde“ (S 13) miteinander vermischt, ohne dass diese Straftaten in Relation zu all den anderen Straftaten gesetzt werden, die seit 70 Jahren in der Bundesrepublik verübt worden sind.
Dabei konnte im Falle des Attentat-Versuchs von Halle die stabile und fest verschlossene Tür der Synagoge, in der der Attentäter ein Blutbad anrichten wollte, das Schlimmste verhindern, so dass bei diesem Anschlag „nur“ zwei zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort weilende Menschen ihr Leben lassen mussten, während die eigentlich gemeinten 51 jüdischen Synagogen-Besucher offenbar durch eine „höhere Macht“ am Leben bleiben durften.
Das Attentat auf jüdische Menschen hat sich also am 10. Oktober 2019 gar nicht in der Wirklichkeit abgespielt, sondern nur in der Vorstellung empörter Journalisten (von der Bildzeitung bis zum Spiegel) und empörter Politiker.
Dass es in Deutschland, aber auch weltweit, Fanatiker gibt, die ihren Hass auf alles, was jüdisch ist, in Gewalt steigern, ist kein spezielles Phänomen deutscher Gegenwart. In muslimischen Ländern wie in Palästina oder Syrien ist es fast schon die Regel.
Gewaltbereite Fanatiker unter psychisch gestörten jungen Menschen gab es auch bei den Amokläufen der letzten Jahre in den USA und in Deutschland oder bei den Selbstmordattentaten fanatischer Islamisten. Der junge Mann, der am 11. März 2009 in Winnenden 15 Menschen und schließlich sich selbst tötete, handelte gewiss nicht aus „Judenhass“, genauso wenig wie fast all die anderen Amokläufer. Ein Attentat auf jüdische Mitmenschen ist daher eher die Ausnahme wie in Pittsburg. Auch hatten nicht all die fehlgeleiten jungen Männer einen „rechtsextremen“ Hintergrund. Auf der Wikipediaseite kann man im Kapitel „Täter“ folgendes lesen:
„Die Täter zeigen häufig psychische Auffälligkeiten, leiden aber in der Regel nicht an schizophrenen oder affektiven Psychosen mit Realitätsverlust oder Halluzinationen. Stattdessen war ein Großteil der Täter im Vorfeld depressiv und suizidal. Lothar Adler stellte drei psychologisch-psychiatrische Typologien vor, indem er zwischen (wahnhaft-) schizophrenen, (schamhaft-) depressiven und (narzisstisch-) persönlichkeitsgestörten Tätern unterscheidet. Letztere betrachtet er als gefährlichste Gruppierung, deren Taten am opferreichsten seien.“[1]
Wenn ich die drei Typen mit der anthroposophischen Menschenkunde beschreiben möchte, dann kann ich den wahnhaft-schizophrenen Typ dem Willensbereich zuordnen. In ihm wirkt das Doppelgänger-Wesen, das jeden Menschen mehr oder weniger stark in stressigen Situationen unbewusst steuern kann. Es ist der „schwarze Schatten“, der den Menschen begleitet und ihn beherrscht, wenn man sich in eine Wahnwelt zurückzieht und überall böse Mächte lauern sieht, angestachelt oder besser „aufgehetzt“ durch entsprechende Internetseiten oder –foren. Solche Typen bereiten wie Stephan Balliet, der Attentäter von Halle, ihre Taten minutiös vor und führen sie dann aus. Sie wollen die „bösen Mächte“ aus ihren Wahnvorstellungen bekämpfen. Bevorzugtes Ziel solcher Täter sind Moslems oder Juden, die eine Gefahr für die eigene Kultur darzustellen scheinen.
Der schamhaft-depressive Typ ist in seinem Gefühlsleben gestört. Er isoliert sich  wie der wahnhaft schizophrene Typ und fühlt sich als ein kompletter Verlierer. Auch von dieser Seite hatte der Attentäter von Halle etwas. Er äußerte sich mehrmals in dem Internetforum, auf das er seine Tat live übertrug, dass er ein „Loser“ sei. Er rief, nachdem er festgestellt hatte, dass er offenbar beim Schießen den Reifen seines eigenen Wagens getroffen hatte: „One time loser, always loser!“ und ganz zum Schluss seines Videos „I am a complete loser!“, bevor er um 12.22 Uhr sein Smartphone, mit dem er alles gefilmt hatte, nahe des Hauptbahnhofes von Halle, aus dem Autofenster warf.
Der gefährlichste Typ ist laut Adler der narzisstisch-persönlichkeitsgestörte Täter. Dieser Typ überhöht seine eigene Bedeutung und Macht und leidet auch unter Realitätsverlust wie die beiden anderen Typen. Bei ihm kommt jedoch eine völlig kalte Vorbereitung der Tat in Frage und am Ende zeigt er (wie der Norweger Anders Breivik oder der Neuseeländer Brandon Terrant) keinerlei Reue. Die Persönlichkeit solcher Menschen kann man nur dadurch erklären, dass sie ein eigenes Ich entweder nie besaßen  oder durch ein anderes Ich ersetzten. In traditioneller Weise spricht man hier von „Besessenheit“.
Ich denke, dass bei all diesen psychotischen Typen alle drei Faktoren zusammenspielen.
Wenn ich versuche, solche Persönlichkeitsstrukturen sachlich zu analysieren, so kann ich feststellen, dass sie immer mehr um sich greifen. Es ist das, was Rudolf Steiner als ein Merkmal der neueren Zeit („Menschheit an der Schwelle“) bei vielen Menschen beobachtet hat: die drei Seelenglieder  Denken, Fühlen und Wollen, die bei normaler menschlicher Entwicklung in Harmonie zueinander stehen, dislozieren sich, das heißt, machen sich selbstständig.
Natürlich tragen die neueren Medieneinflüsse maßgeblich dazu bei, wie ich in meinem letzten Blogeintrag bereits angedeutet habe. Extreme Filmerlebnisse, wie zurzeit durch den Film „Joker“ – in der Jugend in die Seele aufgenommen – wirken unbewusst weiter und können die Seelenstruktur von labilen Jugendlichen, die oft vaterlos aufgewachsen sind, maßgeblich verändern. Solche oft scheuen und unsicheren Jugendliche ahmen dann in der Regel spektakuläre Taten nach, wie zum Beispiel der damals 25-jährige Attentäter John Hinkley Jr., der am 30. März 1981 vor dem Hilton-Hotel in Washington D.C. ein Attentat auf den US-Präsidenten Ronald Reagan verübte. Er hatte sein Motiv aus dem Film „Taxi Driver“ geholt, dessen Hauptdarstellerin Jody Foster er vergötterte.[2]
Es handelt sich also bei Menschen wie Stephan Balliet nicht in erster Linie um „Antisemiten“, sondern um gestörte Persönlichkeiten, die als Menschen ins Abseits geglitten sind und sich nun durch einen spektakulären Akt ins Licht der Öffentlichkeit rücken wollen, um ihrem bisher sinnlosen Leben endlich doch noch einen „Sinn“ zu geben.
So rief der 25-jährige Attentäter Marc Chapman[3], der am 8. Dezember 1980 den Beatles-Sänger John Lennon vor dem Dakota-Gebäude in New York erschoss: „Ich war ein Niemand, bis ich den größten Jemand tötete!“[4]



[3] Sowohl John Hinkley Jr., als auch Marc Chapman wurden im Jahre 1955 geboren, in dem Jahr, als Nicholas Rays Schlüsselfilm „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Rebell without a Cause) mit James Dean in die Kinos kam, der noch Jahre später ein Jugendidol war. https://de.wikipedia.org/wiki/%E2%80%A6_denn_sie_wissen_nicht,_was_sie_tun. Der 27-jährige Stephan Balliet wurde im Jahre 1992 geboren, in dem Jahr also, in dem Stephen Spielbergs erstes Dinosaurier-Spektakel „Jurassic Park“ in die Kinos kam, ein „Blockbuster“, der unzählige Kinder plötzlich für die drachenhaften Dinos begeisterte.
[4] Chapman verlor sich in der Welt des "Fängers im Roggen". In diesem Roman, einem Welterfolg, hatte J.D. Salinger 1951 die Geschichte des Teenagers Holden Caulfield erzählt, der durch New York irrt und mit gesellschaftlichen Normen und dem Verhalten seiner Umwelt hadert.
Chapman las das sozialkritische Buch so oft, bis er glaubte, er und Caulfield seien eins; wie sein Romanheld müsse er den Lügen der "Phonies" widerstehen, der Schwindler und Blender. Er beging einen Selbstmordversuch und steigerte sich in Wahnvorstellungen hinein. Er spielte mit dem Gedanken, sich in Holden Caulfield umzubenennen, und unterschrieb später Dokumente mit dem Namen seines verhassten Idols Lennon - ein Mensch ohne eigene Identität, ein leeres Gefäß auf der Suche nach Inhalt. https://www.spiegel.de/geschichte/mord-an-john-lennon-die-kranke-welt-von-mark-david-chapman-a-1065402.html

1 Kommentar:

  1. psycholgisch gut erklärt... ich denke auch es wird im antisemitischen Kontext völlig überzogen, außerdem scheint auch einiges "faul" zu sein, so viele widersprüchliche Fragen, da ist schwer manipuliert worden und die Medien wissen wenig, spielen mit und haben nur Vermutungen.

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