Freitag, 1. September 2017

Grenzerfahrungen - aus meinem Reisetagebuch


Die leider viel zu kurze Zeit bei Lilia, ihrem Mann und ihren Kindern waren von Herzlichkeit geprägt.
Dobrusch im weißrussischen Dreiländereck liegt etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze im Osten und etwa 40 Kilometer von der ukrainischen Grenze im Süden entfernt. Bis Kiew sind es nur noch etwa 300 Kilometer. Der Fluss Iputz, der einen nördlichen Teil von Dobrusch, in dem Lilia mit ihrer Familie wohnt, und einen südlichen Teil mit dem Bahnhof voneinander trennt, fließt in Gomel, der zweitgrößten Stadt Weißrusslands, in den Sosch, einen Nebenfluss des Dnjepr, der im Süden auch ein Stückchen weit Grenzfluss zur Ukraine ist. Es gibt den Rest einer mittelalterlichen Brücke in Nord-Dobrusch, an dem zwei geschnitzte Figuren stehen, die vermutlich Wikinger darstellen sollen. Ich denke, die Waräger sind bei ihren Fahrten auf dem Dnjepr auch den Sosch und den Irputz hochgefahren. Jedenfalls gehörte der größte Teil des südlichen Weißrussland vor 1000 Jahren noch zum ersten russischen Großfürstentum, zum Reich von Kiew.


Als wir am Montagmittag mit Lilia im nördlichen Teil von Dobrusch einkaufen gingen, erlebten wir eine Stadt, die wie aus der Zeit gefallen schien. Das zentrale Lenin-Denkmal steht am Eingang einer mit gepflegten Laubbäumen bepflanzten Esplanade, an der etwa dreistöckige Häuser standen, in denen im Erdgeschoss kleine Geschäfte untergebracht sind. In einem eher wie ein Kiosk aussehenden Häuschen war eine Bank untergebracht. Wir mussten draußen warten, bis der Kunde vor uns herauskam. Dann traten wir ein und wechselten an einem einzigen Schalter russische in weißrussische Rubel. Dabei ist der Wechselkurs eins zu zwei zum Euro. Wir bekommen also nicht die großen Rubelscheine, bei denen 200 Rubel gerade einmal knapp drei Euro sind. Jetzt sind zwei weißrussische Rubel einen Euro wert.
Lenin schaut auf einen großen Platz, an dem die wohl beste Metzgerei des Städtchens liegt, in der wir verschiedene Sorten der berühmten weißrussischen Wurst einkaufen. Wir müssen uns, wie in der sowjetischen Zeit, in eine Schlange einreihen, bis uns eine der drei Häubchen tragenden Verkäuferinnen bedient. Nicht weit von der Metzgerei ist ein etwas größerer Bau, man könnte fast sagen, eine kleine Fabrik. Hier gibt es ein paar Geschäfte, in denen zum Beispiel Kleider und Schuhe verkauft werden. In einem der hinteren Räume des Erdgeschosses hat Pavel seine winzige Leder-Werkstatt. Er arbeitet mit uralten Nähmaschinen und in der Werkstatt sieht es eher chaotisch aus. Er verdient je nach Saison umgerechnet 50.- bis 100.- Euro/Monat.
Wir besuchen ihn. Lilia, die sich mit Putzen Geld (umgerechnet 100.- Euro im Monat) verdient, hat an diesem Montag wegen unseres Besuchs extra frei genommen. Als wir von unserer Einkaufstour zurückkommen, ist auch Pavel zu Hause. Wir essen etwas zusammen. Ich entdecke eine leckere Fischpastete und einen mit Aprikosen bestückten Frischkäse. Es werden auch verschiedene Wurstsorten aufgetischt und ein dunkles weißrussisches Bier. Draußen im Garten fliegen auffallend viele Schmetterlinge und ich erfahre, dass Weißrussland die meisten Lebensmittel selbst herstellt und dass in dem Land wenig Pestizide und Kunstdünger in der Landwirtschaft verwendet werden, obwohl das Land 1986 besonders stark von der Atomkatastrophe im nur ca. 100 Kilometer südlich am Zusammenfluss des Pripjet mit dem Dnjepr gelegenen ukrainischen Kernreaktor von Tschernobyl betroffen war. Alles, was hier gegessen wird, hat noch den alten Geschmack, den Lilia und Lena aus ihrer Kindheit in Karaganda kennen. Die beiden Freundinnen erinnern sich gerne an diese gemeinsame Zeit in ihrer Heimatstadt.


Durch die Baptisten sind Lilia und Pawel auch nach Weißrussland ausgewandert. Sie konnten mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde das 1978 gebaute Häuschen aus weiß gestrichenen Ziegelsteinen kaufen und sie können als siebenköpfige Familie auch heute (ohne staatliches Kindergeld) nur überleben, weil reichere Baptistengemeinden aus der ganzen Welt sie mit Spenden unterstützen, obwohl die Lebenshaltungskosten in diesem Land sehr gering sind. 
Dabei gefällt mir die Stimmung in dem nahezu autarken Land eigentlich ganz gut. Es herrscht Ordnung. Der Verkehr ist gut geregelt: es gibt viele Radaranlagen auf den gut ausgebauten Hauptstrecken. Die Weißrussen fahren wesentlich disziplinierter als die Russen und halten sich in der Regel an die vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Wir  fuhren auf den mehrspurig ausgebauten Strecken der Europastraße E 95 (von Sankt Petersburg nach Kiew) streckenweise 150 Stundenkilometer, als wir am Sonntag die etwa 1000 Kilometer lange Reise von Sosnovy Bor nach Dobrusch zu Lilia machten. Wir hatten dabei beinahe das ganze Land von Norden nach Süden durchquert. Am Dienstag haben wir dann das Land von Osten nach Westen auf der ebenfalls gut ausgebauten Fernstraße M 10 durchfahren. Nur die kleinen Verbindungen von Dorf zu Dorf müssen in miserablem Zustand sein, so wie der Weg, der zu Lilias Haus führt.
Auf den Fernstraßen darf man eigentlich nur 90 fahren, an den zahlreichen Fußgängerüberwegen nur 60. Auf den Nebenstraßen, die wir aber nicht benützen, kann man wohl wegen der vielen Schlaglöcher sowieso nicht schneller fahren. Einmal werden wir geblitzt, weil ich die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht rechtzeitig gesehen hatte. Ich fuhr etwas schneller als 70 km/h, aber es waren nur 60 km/h erlaubt. Diese Geschwindigkeitsbeschränkung stand nicht auf einem Schild, sondern war als großes Verkehrszeichen auf die Straße gemalt, woran ich mich erst gewöhnen musste.
Was mir auffällt, sind die Plakate am Straßenrand des Stadtzentrums, die an die heroischen Taten der Weißrussen im Zweiten Weltkrieg erinnern sollen, oder die als Denkmale aufgestellten Panzer, von denen ich einen in Gomel und einen in Dobrusch sehe.
Lena erzählt mir, dass die Weißrussen vor allem als Partisanen gegen die deutschen Soldaten gekämpft hätten. Sie lebten in kleinen Bunkern in den beinahe undurchdringlichen, meist sumpfigen Wäldern. Die Deutschen brannten aus Rache die Holzhäuser der Weißrussen und manchmal ganze Dörfer nieder und sollen dabei auch die Einwohner getötet haben, die sie wohl für Angehörige der Partisanen hielten.
In diesem westlichen Teil Russlands lebten besonders viele Juden.  Allein in Gomel gab es 1939 fast 40000 Juden. Bei der Volkszählung von 1897 lag der jüdische Anteil laut Wikipedia bei 55 Prozent der Bevölkerung, vor dem Zweiten Weltkrieg (1939) noch bei knapp 30 Prozent. Die Deutschen sollen zwischen 3000 und 4000 von ihnen umgebracht haben. Am Anfang des 21. Jahrhunderts sind offenbar viele Juden ausgewandert, zum Teil auch nach Deutschland.
Wir trafen im Stadtzentrum, wo es an der Esplanade auch einen kleinen Wochenmarkt gab, beim Einkaufen auf ein Deutsch sprechendes junges Ehepaar, einen Weißrussen, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Sie wohnen in der Nähe von Berlin und wollten noch an diesem Nachmittag zurückfahren. Lena meinte, dass es gewiss Juden wären. Der Mann erzählte uns, dass wir an der Grenze in Brest vermutlich etwas länger kontrolliert würden. Auf keinen Fall sollten wir weißrussische Wurst und weißrussische Milchprodukte „ausführen“. Er fahre gewöhnlich so, dass er die Grenze nachts passieren muss, weil da am wenigsten los sei und es am schnellsten ginge.

Wir fuhren am Dienstagmorgen pünktlich um 7.00 Uhr (deutscher Zeit) los, nachdem wir noch mit Lilia und Pavel gefrühstückt hatten. Pavel sprach zum Abschied auf Russisch ein Gebet. Die beiden sind dann noch vor unserer Abreise mit ihren Fahrrädern zur Arbeit gefahren. Ich legte in ihrem Schlafzimmer unter den Rosenquarz-Leuchter, den ich Lilia vor zwei Jahren in Rothenburg gekauft hatte, einen 50-Euro-Schein. Leider war es der falsche, denn Pavel hatte mir am Vortag einen älteren 50-Euroschein gezeigt, der einen kleinen Riss hatte, und den die weißrussische Bank nicht eintauschen wollte. Ich gab ihm einen unbeschädigten neuen Schein dafür. Nun hatte ich ausgerechnet seinen Schein als „Spende“ zurückgelassen. Als ich das merkte, drehte ich um, und wir fuhren noch einmal zurück. Nun tauschten wir den alten gegen einen neuen Schein aus und Lena legte von sich aus noch einmal 50.- Euro dazu. Durch diesen „Faux-Depart“ verloren wir ungefähr eine Dreiviertelstunde.
Wir fuhren abermals durch die Stadt Gomel, die einen durchaus modernen Eindruck machte. Die Straße nach Brest war gut ausgeschildert. Das verwunderte uns, denn als wir am vergangenen Donnerstag aus Sankt Petersburg herausfuhren, konnten wir zunächst überhaupt keine Hinweisschilder entdecken, obwohl wir uns auf einer der großen Ausfallsstraßen (Moskawa Chaussee) befanden. Ich musste mich an den Himmelsrichtungen und mit Hilfe meiner kleinmaßstäblichen Karte orientieren, bis wir endlich ein Schild mit der Aufschrift „Tallin“ sahen.
Schließlich fuhren wir auf der Fernstraße M 10 nach Westen. Bis zur weißrussisch-polnischen Grenze waren es ca. 550 Kilometer. Etwa 30 Kilometer hinter Gomel überquerten wir den Fluss Dnjepr, jenen Schicksalsfluss, den die Waräger von Birka am Mälarsee bei der späteren Stadt Stockholm nach Konstantinopel hinab- und hinauf ruderten. Straßen führten damals noch nicht durch die unendlichen Wälder. Flüsse waren im 9. Jahrhundert in diesem von slawischen Völkern dünn besiedeltem Gebiet die einzigen Verkehrswege, ganz anders als in den gallischen und südgermanischen Ländern, wo es – zumindest, wenn sie zum ehemaligen römischen Reich gehörten – befestigte Römerstraßen gab.
Dobrusch bei Gomel war bis dahin der östlichste Ort, den ich in meinem Leben besucht habe, so wie Noya bei Santiago de Compostella der westlichste war. Immer wieder musste ich an die erste große Reise mit dem Auto denken, die ich mit Isabelle und David, einer französischen Katholikin und einem südafrikanischen Juden im Sommer 1975 unternommen habe. Damals führte uns die Route nach Westen in ein diktatorisches Land. 1975 war in Spanien der letzte faschistische Diktator, Francisco  Franco, noch an der Macht. In Weißrussland herrscht seit 1994 der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Präsident Alexander Lukaschenko. Zu den Verbündeten der weißrussischen „Republik“ gehört neben Venezuela, Kuba, dem Iran und China auch Nord-Korea, das letzte streng kommunistische Land des Planeten. Mit Russland gibt es immer wieder Probleme, weil Präsident Putin Weißrussland bei den Öl- und Gaspreisen keine Vergünstigungen gewähren will.
Die Straße M 10 führt mehr oder weniger schnurgerade nach Westen und durchschneidet das unendliche Wald- und Sumpfgebiet rund um den Fluss Prypjat mit einer breiten Schneise. Der Nebenfluss des Dnjepr fließt eine weite Strecke südlich parallel zur M 10 von West nach Ost, also genau in entgegengesetzter Richtung.
Die Siedlungen an der M 10 sahen etwas wohlhabender als an der E 95 aus. Auch waren die Wälder immer wieder unterbrochen durch große fruchtbare Felder, auf denen Getreide angebaut wurde, das zum Teil jetzt erst geerntet wird. Auch viele Maisfelder sahen wir rechts und links der Straße. Neben den üblichen einstöckigen Holzhäusern sahen wir viele Steinhäuser.


Eine der größeren Städte, die wir auf unserer Route durchquerten, war Pinsk. Es war einst die osteuropäische Stadt mit dem größten jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Er belief sich 1897 laut Wikipedia auf 74 Prozent. Der erste israelische Präsident, Chaim Weizmann, wurde in der Nähe von Pinsk geboren und erhielt in der mehrheitlich polnisch sprechenden Stadt seine Schulbildung; die spätere vierte Ministerpräsidentin Israels, Gold Meir, verbrachte einige Jahre ihrer Kindheit in der Stadt. Die Stadt hatte 1581 die Magdeburger Stadtrechte bekommen und gehörte ab 1589 zum Polnisch-Litauischen Königreich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt polnisch, nach dem Zweiten durch den Hitler-Stalin-Pakt sowjetisch. 1991 wurde die Stadt mit heute knapp 140000 Einwohnern durch die Unabhängigkeit Weißrusslands belarussisch.
Während der Nazi-Herrschaft sollen in der Stadt auf Befehl Heinrich Himmlers durch das Polizei-Bataillon 306 an einem Tag (29. Oktober 1942) über 10000 Juden getötet worden sein.
Bei der Fahrt quer durch Weißrussland musste ich auch immer wieder an Tevje, den Milchmann und das Schtetl „Anatevka“ denken, in dem er mit seiner Frau Golde und seinen fünf Töchtern wohnte. Wie gerne hätte ich so ein jüdisches Städtchen einmal mit eigenen Augen gesehen. Aber vermutlich gibt es keines mehr. Pinsk war einst so ein unabhängiges, rein jüdisches Schtetl.
Kurz vor 14.00 Uhr kamen wir an der weißrussisch-polnischen Grenze in Brest-Litowsk an. 
Die Stadt ging als das östliche Brest in die Geschichtsbücher ein, weil hier von Januar bis März 1918 die Friedensverhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und den Kommunisten der gerade gegründeten Sowjetunion stattfanden. Auf Wikipedia hatte ich mich am Abend zuvor darüber etwas informiert und erfahren, dass die Verhandlungen auf sowjetischer Seite vor allem von Leo Trotzki geführt wurden, der eine Verzögerungstaktik versuchte. Das Ergebnis des Vertrages, der am 3. März 1918 unterzeichnet wurde, war, dass die Sowjetunion als Kriegsteilnehmer ausschied. Nur dadurch konnten sich schließlich die Bolschewiki, die in den Wahlen keineswegs eine Mehrheit erhalten hatten, in Russland durchsetzen, weil ihre Hände nicht mehr durch den Krieg mit den Mittelmächten gebunden waren. Für Deutschland war dadurch der verhängnisvolle Zweifrontenkrieg beendet und die Oberste Heeresleitung konnte sich nun ganz auf die Westfront konzentrieren.
Auch in der Festungsstadt Brest bestand eine große jüdische Gemeinde mit ca. 65 Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch hier trieben die nationalsozialistischen Polizeibataillone bis zu 20000 Juden in ein Ghetto zusammen und erschossen die meisten von ihnen bei dem Dörfchen Bronnaja Gora ca. 110 Kilometer östlich von Brest, wo eine „Erschießungsanlage“ und Massengräber existierten.
Diesen Ort des reinsten Grauens kannte ich bisher überhaupt nicht.
Ohne es zu merken waren wir offensichtlich durch die Hölle gefahren, jedenfalls durch eine der Höllen, die „Menschen“ auf Erden „eingerichtet“ haben.
Und nun waren wir an die Außengrenze der EU gekommen, von welcher wir wieder in einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, also in das Land Polen, einreisen wollten. Unser russisches Visum, das nach unseren Informationen auch für Weißrussland Gültigkeit besaß, sollte am 31. August auslaufen. Danach mussten wir Russland verlassen haben. Wir hatten noch drei Tage Zeit.


Es war genau 14.00 Uhr, als wir uns in die Autoschlange an der Grenzstation einreihten. Ich habe nicht gezählt, wie viele Autos hier warteten, aber es waren gewiss mehrere hundert, die meisten mit weißrussischen Kennzeichen, viele auch mit polnischen Kennzeichen. Ich sah nur drei mit deutschen und zwei mit französischen Kennzeichen. Wir aßen im Auto unsere mitgebrachten Brote zu Mittag und warteten geduldig, bis wir an die weißrussische Kontrollstation gelangten, wo wir mehrmals Autopapiere und Pässe vorzeigen mussten. Wir erfuhren voller Erstaunen, dass unser russisches Visum doch nicht in Weißrussland gültig war, obwohl man es uns an der finnisch-russischen Grenze mehrmals versichert hatte.
Wenn es anders gewesen wäre, wären wir nicht zu Lilia, sondern über die baltischen Staaten, die bereits zur Europäischen Union gehören, nach Hause gefahren. Das war eigentlich ursprünglich mein Plan. Ich hätte gerne Tallin und Riga, die beiden alten Hansestädte an der Ostsee besucht, womit unsere Reise, die ja in Lübeck begonnen hatte, einen runden Abschluss gefunden hätte. Aber Lena hatte Lilia versprochen, dass wir sie besuchen würden, und Geschenke für sie und ihre Kinder besorgt.
Nun wollten wir also von Weißrussland nach Polen „einreisen“. Eigentlich wollten wir nur so schnell wie möglich nach Hause, denn unsere „Reise nach Sankt Petersburg“ endete an diesem Tag mit der Abreise aus Dobrusch. Dazu mussten wir Polen durchqueren.
Die Grenzbeamten forderten uns auf, unser Auto auf einem mit Eisengitter geschlossenen Parkplatz abzustellen und umschlossen den linken Vorderreifen mit einer Wegfahrsperre aus Eisenkrallen. Wir waren an dieser Grenze die einzigen, die so behandelt wurden. Alle anderen durften weiterfahren. Der junge Zollbeamte nahm uns mit in ein dunkles Büro und verhörte Lena und mich eine Stunde lang, während Olga, die einen russischen Pass besaß, beim Auto warten musste. Sie durfte nicht einmal auf die Toilette gehen, geschweige denn in den benachbarten „Duty-Free-Shop“.
Über das Verhör wurde ein etwa zehnseitiges Protokoll in weißrussischer Sprache angefertigt, das jeder von uns am Schluss mindestens fünfzehnmal unterschreiben musste. Es wurde uns eine Strafe von je 30.- Euro auferlegt, weil wir kein gültiges Visum besaßen.
Die Strafe war laut Aussage des Beamten die günstigere Lösung, da die Visa selbst wohl das Doppelte gekostet hätten. Wir sollten die Summe von 60.- Euro überweisen. Der junge Weißrusse mit armenischen Wurzeln, der bereits seit drei Stunden in dem kleinen, stickigen Büro ausharren musste, weil angeblich etwas mit seinem Ausweis nicht stimmte, flüsterte mir auf Englisch zu, dass wir das Geld nicht überweisen sollten. Der Beamte wies uns darauf hin, dass wir nicht wieder in Weißrussland einreisen dürften, wenn wir nicht überweisen würden. Uns lag in diesem Augenblick nichts ferner als dies. Nein, in dieses Land würden wir gewiss nie wieder einreisen.
Immerhin war der junge Beamte mit kurzgeschorenem rotblonden Haar und fünf Sternen auf seiner Uniform einigermaßen freundlich, als er uns befragte. Er tat ja nur seine Pflicht. Er hätte aber auch „ein Auge zudrücken“ können.
Es war kurz nach 18.00 Uhr, als wir entlassen wurden und unser Auto von den Krallen befreit wurde.
Nun mussten wir uns einreihen in die nächste Schlange: wir befanden uns jetzt an der polnischen Grenze. Es gab acht Reihen, eine davon war für Mitglieder der EU vorgesehen. In diese Reihe stellten wir uns zuerst. Als wir aber sahen, dass es überhaupt nicht vorwärts ging, reihten wir uns in die nächste Schlange ein, die zu einem Schalter führte, der für „all pasports“ galt.
Nach einer Wartezeit von einer weiteren Dreiviertelstunde zeigten wir wieder mehrmals unsere Pässe. Die blondhaarige, hagere Grenzbeamtin (Lena: „Hexe“) antwortete mir sehr unfreundlich auf Polnisch, als ich sie auf Englisch ansprach. Sie fragte, ob wir Zigaretten, Wurst oder Milchprodukte dabei hatten. Olga hatte tatsächlich drei Stangen Zigaretten, die sie in einem großen Supermarkt in Sankt Petersburg für den Vater ihres Sohnes gekauft hatte, in ihrer Reisetasche, die auf ihrem Koffer auf der linken Seite des Rücksitzes stand, ganz oben eingepackt.
Ich antwortete auf Englisch, dass ich keine Zigaretten habe; da mischte sich Lena auf Russisch ein und erklärte, dass wir pro mitfahrender Person eine Stange dabei hätten. Wir waren der Meinung, dass diese Menge genehmigt war. Aber auch hier irrten wir uns offenbar. Diese Menge durfte man seit einigen Monaten nur im Flugzeug, nicht aber im Auto mitführen.
Wir wurden zu einer Halle auf eine Grube geleitet, in der nun unser Auto von drei äußerst unfreundlichen Polen von allen Seiten nach „Schmuggelware“ untersucht wurde. Lena musste sogar ihre Handtasche öffnen. Wir wurden wie Diebe und Schmuggler behandelt.
Natürlich fanden wir diese unwürdige Behandlung skandalös und wehrten uns. Olga sollte noch 100.- Euro Strafe zahlen, nachdem ihr bis auf sechs Päckchen alle Zigaretten abgenommen worden waren. Sie weigerte sich beharrlich. Diesmal wurde sie eine Stunde lang in einem Büro verhört, während Lena und ich im Auto warteten.
Als wir den letzten Posten passieren wollten, fuhr ich an den geöffneten Schalter vor, weil ich der Meinung war, wir müssten unsere Pässe noch einmal vorlegen. Aber auch da irrte ich mich. Der Beamte schrie mich wie ein Psychopath auf Polnisch an und schließlich begriff ich, dass ich zu weit vorgefahren war. So stieß ich ein wenig zurück bis zu einer Bodenschwelle. Aber das war dem Beamten immer noch nicht genug und er schrie weiter. So fuhr ich noch weiter zurück, bis er zufrieden war. Dann stellte er die Ampel auf Grün, öffnete gnädig den Schlagbaum und wir waren „draußen“!
Es war 23.30 Uhr, als wir endlich losfahren und den Grenzfluss Bug überqueren durften. Wir hatten fast zehn Stunden an dieser Grenze verbracht und wir schwuren uns, dass wir nie wieder nach Polen reisen würden. Wir wollten so schnell wie möglich durch dieses Land durchfahren, möglichst ohne anzuhalten und ohne einen Sloty da zu lassen.
Wir waren mehr als entrüstet über die Behandlung, die uns von Grenzbeamten eines Mitgliedslandes der EU angetan worden war. Dagegen waren die Weißrussen direkt freundlich. Aber von den Polen bekamen wir kein gutes Wort zu hören und nicht ein Lächeln gezeigt.
Lena erzählte mir, dass die Russen die Polen noch nie leiden mochten. Für sie sind die Polen wie Hyänen, die gierig nach jedem hingeworfenem Aas schnappen. In Deutschland gelten Polen als Diebe, besonders als Autodiebe. Lena erzählte von einer polnischen Nachbarsfamilie in Hessental, die eines Tages mit einem Lastwagen voll Fahrräder vorfuhr. Genau einen Tag zuvor war auch das nagelneue Fahrrad ihres damals siebenjährigen Sohnes verschwunden. Die polnische Familie stritt ab, dass sie es gestohlen hätte.
Ähnliche Geschichten höre ich immer wieder von vielen Menschen.
Die etwa 200 Kilometer lange Fahrt von Brest nach Warschau auf der einspurigen europäischen Fernstraße E 30 war etwas beschwerlich, da die Fahrt immer wieder durch Geschwindigkeitsbegrenzungen gebremst wurde. Diese Strecke zog sich lange hin.
Erst in Warschau gelangten wir auf eine mehrspurige Autobahn. Wir überquerten auf einer großen Autobahnbrücke bei Nacht die Weichsel und fuhren dann zunächst in Richtung Posen. Die alte Bischofs- und Handelsstadt beidseits der Warthe hätte ich gerne einmal besucht.
Mein Navi, das glücklicherweise in Polen wieder funktionierte, nachdem es in Schweden auf der Hinfahrt nichts mehr anzeigte, führte mich sicher auf den durchweg gut ausgebauten und zum Tell beleuchteten Autobahnen über Lodz nach Breslau, das auf Polnisch „Wroclaw“ heißt.
Der Morgen begann zu dämmern, als uns die Autobahn auf eine gigantischen Brücke über die Oder und dann westlich an der Heimatstadt meiner Eltern vorbei führte.
Im Sommer 1992 war ich mit meiner Tante und einer Reisegruppe zum ersten Mal in Breslau. Damals war die Stadt kurz nach der Wende ein Schutthaufen und die einzige Autobahn, die von der Grenzstadt Görlitz an der Neiße nach Breslau führte, bestand aus Betonplatten und war kaum mit 100 Stundenkilometern befahrbar. Nun schien sich die Stadt, die im vergangenen Jahr europäische Kulturhauptstadt war, gemausert zu haben. Überall sehe ich Reklametafeln von Burger-King, McDonald und von großen Einkaufszentren oder Tankstellen. In den vergangenen 25 Jahren hat Polen offenbar, mit Hilfe von EU-Subventionen, einen großen „Sprung nach vorne“ gemacht. Polen ist heute eine boomende Wirtschaftsnation.
Hier lässt IKEA seine Billigmöbel bauen und amerikanische Firmen mästen in großen Betrieben tausende von Schweinen, Gänsen, Puten und Hähnchen, deren hormon- und antibiotikahaltiges Fleisch dann billig auf den europäischen Markt „geworfen“ wird, wo es in den großen Supermärkten an die Menschen verkauft wird, die immer nur „billig“ einkaufen wollen und nicht merken, dass sie nur gesundheitsschädlichen „Müll“ erwerben. Andererseits bemühen sich zunehmend polnische landwirtschaftliche Betriebe um den ökologischen Landbau und weiten die Öko-Anbaufläche ständig aus. Sie liegt heute bei deutlich über einer halben Million Hektar.
Nachdem wir Breslau passiert haben, geht um 6.00 Uhr deutscher Zeit hinter uns die Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen lassen die Haare und Gesichter meiner beiden schlafenden russischen Frauen rosa erglühen. Es beginnt ein wolkenloser Sommertag, dessen Temperaturen bis auf 30° C ansteigen werden. Auf unserer Reise hatten wir an keinem Tag Temperaturen über 24° C.
Im Süden begrüßen mich die im blauen Dunst liegenden Ausläufer des Riesengebirges. Zum ersten Mal seit drei Wochen Ebene sehe ich wieder Berge und ich freue mich wie ein Kind über diesen Anblick. Für mich ist es wie ein ferner Gruß meiner einst deutschen Heimat, mit der ich mich immer noch verbunden fühle.
Wir fahren auch an Liegnitz vorbei, wo mein Vater die Ritterakademie besucht hat. Es ist der Ort, an dem am 9. April 1241 bei einer mörderischen Schlacht mit den Mongolen der schlesische Herzog Heinrich II. tot auf der Walstatt blieb. Der Sohn der Heiligen Hedwig ruht heute in der Kirche Sankt Vinzenz in Breslau. Sein kunstvoll gestaltetes Hochgrab habe ich 1992 besucht.
In Liegnitz wendete sich das Schicksal Europas, denn die „Goldene Horde“ des Batu Kahn, des Enkels von Dschingis Khan, die bis zum Atlantischen Ozean alle europäischen Länder erobern wollte, kehrte plötzlich um und stellte ihre Eroberungszüge ein.
Der Ort wird auf den Schildern an der Autobahn als „Legnica“ bezeichnet. Ich kann mich noch erinnern, wie 1992 alle Ortsnamen auf Verkehrsschildern und Straßenkarten zweisprachig, also auf Polnisch und Deutsch, verzeichnet waren. Nun lese ich nur noch die für mich geradezu unaussprechlichen polnischen Ortsnamen. Das fällt mir besonders bei Görlitz auf, dessen östlicher Teil auf Polnisch Zgorzelek heißt. Der Name Görlitz taucht auf den Autobahnschildern an keiner Stelle auf, obwohl bei dieser Stadt an der Lausitzer Neiße die deutsch-polnische Grenze verläuft.
Wir halten schon die Pässe bereit und sind auf ähnliche Schikane gefasst wie an der weißrussisch-polnischen Grenze; aber es gibt nicht die geringste Spur von eine Grenzanlage, geschweige denn eine Grenzkontrolle.
Als wir weiter über Dresden, Chemnitz, Zwickau, Hof, Bayreuth, Nürnberg und Ansbach nach Schwäbisch Hall fahren, müssen wir an einer nahezu ununterbrochenen Kolonne von LKWs vorbeifahren, die fast alle aus Polen kommen. Nur ganz vereinzelt treffen wir auf ein litauisches oder estnisches Kennzeichen und manchmal sogar auf ein deutsches.
Einmal musste ich in Polen tanken. Dabei habe ich mir auch einen Coffee-to-Go gekauft, von dem ich immer wieder trank. In der ostdeutschen Raststätte Vogtland frühstückten wir und ich tankte noch ein letztes Mal Diesel.
Um 12.45 Uhr waren wir in Schwäbisch Hall.
Der Tachometer, den ich bei der Abreise am 04. August 2017 auf 0 gestellt hatte, stand auf 6389,5 Kilometern.



Es war meine bisher längste Autoreise, die an diesem 30. August zu Ende ging.

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