Mittwoch, 31. Oktober 2018

"Was ist Gott?" - Gedanken zum Vortrag Rudolf Steiners vom 30. April 1918


Gestern (30. 10.2018) las ich den vierten Vortrag aus GA 182, den Rudolf Steiner am 30. April 1918 in der Donaustadt Ulm hielt. Von dort aus sind im 18. Jahrhundert viele „Schwaben“ mit flachen Kähnen die Donau abwärts gefahren, um in Ungarn oder Rumänien ein neues Leben zu beginnen, wie heute die Nachkommen jener deutschstämmigen Siedler und zusätzlich viele ihrer Landsleute wieder nach Deutschland kommen, um hier ein neues Leben aufzubauen. Eine ungarische Kursteilnehmerin erzählte mir neulich, dass ihre Großeltern Donauschwaben waren, die untereinander Deutsch sprachen.
Offenbar wurde erst 1918 in Ulm ein anthroposophischer Zweig begründet. In der Stadt, in der eine reiche Bürgerschaft im Mittelalter eine eigene Kirche gebaut hat, die den Kathedralen in Frankreich und am Rhein (Straßburger und Freiburger Münster) an Größe, Höhe und Schönheit ebenbürtig ist, und seitdem fälschlich Ulmer „Münster“ genannt wird, obwohl sie keine Bischofskirche ist, leitete Rudolf Steiner damals seinen Vortrag mit der Frage ein, was eigentlich der Ausdruck „Gott“ bedeute.
Er sagt:
„Das Wort, nach dessen sprachlichem und geistigem Ursprung Sie am meisten vergeblich suchen werden in den gelehrten Hilfsmitteln, das ist das Wort ‚Gott‘. Keine Wissenschaft vermag Ihnen heute Auskunft zu geben über den sprachlichen und geistigen Ursprung des Wortes Gott. Das ist doch eine eigentümliche Tatsache.“
Viele, insbesondere Kleriker, würden das Wort ständig im Mund führen, wüssten aber gar nicht, zu wem sie eigentlich beteten.
Später führt Rudolf Steiner aus, dass die Menschen, die von Gott sprechen und zu ihm beten, in Wirklichkeit zu ihrem Schutzengel oder zu ihrem eigenen vorgeburtlichen Wesen beten.
„Derjenige, der weiß, was Worte wirklich für einen Inhalt haben können, der weiß, dass alles, was in den modernen Predigten gesagt wird von Gott, niemals auf irgendeinen höheren Gott als auf einen Engel sich bezieht, oder, wenn nicht auf einen Engel, so noch auf etwas anderes. Geht man nämlich der Frage nach, woher denn das eigentlich stammt, was solche Menschen fühlen, die von ihrem Gotte sprechen, die von ihrem Gotte predigen in ihren Kirchen, die oftmals sogar vorgeben, ein Gotteserlebnis in ihren Seelen zu haben, wie es manche Menschen der Gegenwart tun – sie nennen sich dann mit einem gewissen Hochmut ‚evangelisierte Menschen‘ und dergleichen – von welchen Impulsen in ihren Seelen solche Menschen ausgehen, der kommt zu folgendem: Solche Menschen fühlen in ihren Seelen den Impuls des eigenen Wesens, wie sich dieses Wesen entwickelt hat in einer rein geistigen Umgebung zwischen dem letzten Tode und der Geburt. Dieses geistige Wesen, das sich zwischen dem letzten Tode und unserer Geburt in uns entwickelt hat, das ist jetzt in unserem Leibe, das hat unseren Leib bezogen.“
Wenn ich in dem Tagebuch lese, das ich vor 50 Jahren geschrieben habe, dann begegnet mir das Wort „Gott“ auf Schritt und Tritt. Ich war schon als Kind ein religiöser Mensch und habe meine Religiosität auch noch über die Pubertät hinaus retten können, was vielen nicht mehr gelingt. Die beiden Söhne Lenas zum Beispiel sind zwar noch getauft, ja sogar zweimal getauft, weil Mamitschka meinte, nur eine russisch-orthodoxe Taufe sei eine wahre Taufe, aber seit ihrem 12. oder 13. Lebensjahr haben sie sich von Kirche und Gott abgewendet und bezeichnen sich heute als Atheisten. Ich finde, das ist ehrlicher, als zu einem „Gott“ zu beten, den man gar nicht kennt.
Ich glaube, dass nur wenige Kirchenchristen wirklich eine Ahnung von dem tieferen Wesen der Trinität haben, wenn sie sich in ihren evangelischen oder katholischen Gottesdiensten „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ versammeln.
Der Begriff der „Heiligen Dreieinigkeit“ ist mit dem gewöhnlichen Verstand gar nicht zu erfassen. Ich habe erst etwas davon begriffen, als ich im Jahre 1972 in der Philosophie-AG meines verehrten Lehrers Bertold Hasen-Müller zum ersten Mal von der dreigliedrigen Gestalt des Menschen einerseits und der Pflanze andererseits hörte und staunte: Beim Menschen unterschied er mit Rudolf Steiner zwischen Nerven-Sinnespol und Stoffwechsel-Fortpflanzungspol. Dazwischen findet sich im Herz-Lungenraum das rhythmische System mit Atem und Blutkreislauf als Vermittler zwischen den beiden Polen. Bei der Pflanze, so machte Herr Hasen-Müller anschaulich klar, ist es genau umgekehrt: Die Wurzeln entsprechen dem Nerven-Sinnespol beim Menschen, die Blüte mit der Frucht dem Stoffwechsel-Fortpflanzungspol. Das Blätterwerk entspricht dem rhythmischen System. Deshalb isst der Mensch einerseits Wurzelgemüse, andererseits Früchte, aber auch Blattgemüse oder Salat.
Das war mir sofort vertraut und später habe ich die ganze Welt trinitarisch anzuschauen gelernt. Das Göttliche war für mich seitdem nie mehr getrennt von der Welt.
An den Mitteilungen aus der Geisteswissenschaft, die seitdem mein inneres Leben begleitet und bereichert haben, haben mich immer die Angaben zu den Hierarchien interessiert. Ich weiß noch, wie ich vor mehr als 40 Jahren im Baptisterium San Giovanni des Domes von Florenz die wunderschönen Kuppel-Mosaiken der hierarchisch  gegliederten Engelswelt bewunderte und mich gar nicht satt sehen konnte.
Deswegen verwundert es mich gar nicht, dass auch in dem Ulmer Vortrag vom 30. April 1918 kurz auf die Engelshierarchien hingewiesen wird.
Rudolf Steiner sagt:
„Was ist eigentlich Gott, von dem die meisten Menschen der Gegenwart sprechen, die vorgeben, religiöser Natur zu sein?
Nun, die Menschen weisen es ab, wenn wir vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus davon sprechen, dass über uns andere Wesenheiten sind, die Angeloi, Archangeloi, Archai und so weiter, so dass wir eine Hierarchie von geistigen Wesenheiten schauen, und dass der Weg weit hinauf ist zu dem, was das höchste Göttliche ist. Diese erkenntnismäßige Bescheidenheit wollen die Menschen der Gegenwart nicht haben.“
Immer wenn ich gegenüber Kirchgängern von Engeln sprach, erntete ich Kopfschütteln. Manche meinten sogar, das sei Aberglaube.
Im Grunde können zeitgenössische Menschen, die wirklich nach den tieferen Schichten des religiösen Empfindens fragen, nur in der Geisteswissenschaft kompetente und letztlich überzeugende Antworten finden, die so umfassend sind, dass man nahezu ein ganzes Leben braucht, um sie zu studieren und sich zu eigen zu machen.

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