Montag, 15. Oktober 2018

Die Mechanisierung der Welt - Rudolf Steiners Vortrag vom 28. November 1920


Ich habe gerade meinen Tagebucheintrag vom 14. Oktober 1968 abgetippt und noch einmal nachempfunden, wie ich mich als 16-jähriger gefühlt habe, der bereits ans Heiraten zu denken wagte. Damals hatte ich einen Artikel aus einem Reader’s Digest Heft (Jahrgang 18, Januar 1965) in mein Tagebuch geklebt, in dem der Schriftsteller Anthony West einem Neunzehnjährigem erklärt, wann ein junger Mann reif zur Ehe ist.
Am Ende dieses Artikels fand ich folgende Anekdote, die mir wie eine Illustration zu meinen gestrigen Überlegungen zum Kapitalismus vorkommt[1]:

„Professor Raphael Cohen von der Universität Chicago forderte einmal seine Studenten auf, sie sollten sich vorstellen, übermenschliche Wesen seien auf die Erde gekommen und hätten sich erboten, die Menschheit einen Zauber zu lehren, der ihr Leben unvergleichlich viel angenehmer und farbiger machen würde. ‚Als Gegenleistung‘, fuhr der Professor fort, ‚verlangten sie lediglich fünfzigtausend Menschenleben im Jahr. Mit wie viel Empörung hätten alle diesen Handel zurückgewiesen! Dann kam das Automobil.‘“ (Reader’s Digest, Jahrgang 18, Januar 1965)

Es ist manchmal unglaublich, welche unverhofften „Schätze“ das Schicksal aus dem Meer der aufgeschriebenen Gedanken und Ereignisse ans Land einer individuellen Existenz spült!
Was ist nicht alles in der kleinen Anekdote von Professor Raphael Cohen, vermutlich einem Kollegen von Milton Friedman an der Universität von Chicago, aus einem über 50 Jahre alten Reader’s Digest-Heft an Bezügen zu meinen eigenen Gedanken enthalten! 
Das Erstaunliche ist, dass dieser jüdische Gelehrte, der dem Namen nach aus einer Rabbiner-Familie stammen dürfte, von geistigen Wesen spricht, die eine Art Pakt mit dem Menschen schließen. Hier klingt das Mephisto-Motiv an. Aber noch deutlicher ist der Bezug auf die „Geister der Finsternis“, von denen Rudolf Steiner 1917 sprach.
Nun hat mir I. gestern den Band 202 aus der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe im Bonifatiuskindergarten „abgelegt“, um den ich sie am vergangenen Donnerstag gebeten hatte, weil in diesen Vorträgen jenes Zitat zu finden ist, mit dem ich am 29. September meinen Vortrag vor 14 Menschen beendet hatte: „Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen – die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia“.[2]
Noch vor dem Deutsch-Kurs las ich den dritten Vortrag vom 28. November 1920. Dort geht es um die „ahrimanische Verseuchung“. Rudolf Steiner spricht zuerst von den drei alten Idealen Schönheit, Stärke und Weisheit, die einst unbewusst in der Menschheit gelebt hätten und heute noch in den Freimauerer-Logen gepflegt würden. Die Schönheit, so erklärt er, bezieht sich auf den Anblick des Kosmos[3], die Stärke erhält der Mensch, indem er auf dem Boden des Planeten Erde steht. Die Verbindung zwischen Kosmos und Erde ergebe die Weisheit.
Diese äußeren Erlebnisse verlagerten sich in der Gegenwart ins Menscheninnere und tauchen dort, wenn sich der Mensch geistig schult, als Imagination (verwandelte Schönheit), Intuition (verwandelte Stärke) und Inspiration (verwandelte Weisheit) wieder auf. Nun führt Rudolf Steiner aus, wie sich während der Menschheit zweimal geistige Wesenheiten in diese Erlebnisse einmischten: am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausend hätten luziferische Wesen das Erlebnis der Schönheit durchsetzt und in Bahnen gelenkt, die manche Menschen hochmütig werden ließen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nun würden ahrimanische Wesen von der Erde aus wirken und die menschlichen Intuitionen durchziehen, die aus der Stärke heraus kommen.
Ich möchte hier aus dem Ende des Vortrages wörtlich zitieren, in dem es explizit um das Maschinenwesen, das Rudolf Steiner in Pferdestärken misst, geht:
„Jetzt lässt der Mensch einströmen in die Materie seinen Geist, in Mechanismen. Der wird da drinnen so, dass zum Beispiel in Deutschland jeder Mensch noch ein Pferd neben sich aus dem menschlichen Verstande heraus geschaffen hat, das nun neben ihm arbeitet, das kein Pferd war, sondern das Maschinenkraft war. Das ist abgesondert vom Menschen, wie einstmals diese Elementarwesen abgesondert waren vom Menschen, nur in anderem Sinne. Die waren so abgesondert, dass der Mensch seine luziferische Kraft darauf wenden musste. Jetzt wendet er seine ahrimanische Kraft darauf. Jetzt verahrimanisiert er es, mechanisiert es. Wir leben im Zeitalter der ahrimanischen Verseuchung. Die Menschen merken gar nicht, dass sie eigentlich zurücktreten aus der Welt, und dass sie ihren Verstand der Welt einverleiben und neben sich eine Welt, die selbständig wird, schaffen. Und das große, ich möchte sagen, teuflische Experiment ist ausgeführt worden seit dem Jahre 1914; dass die eine ahrimanische Wesenheit gegen die andere ahrimanische Wesenheit im Grunde den Ausschlag gegeben hat. Wir haben es mit einem ahrimanischen Kampfe fast über die ganze Erde hin zu tun gehabt. Den ahrimanischen Charakter hat er angenommen dadurch, dass der Mensch eben in dem Mechanismus, der ihn umgibt, eine neue ahrimanische Welt geschaffen hat. Und es ist eine neue ahrimanische Welt. Wenn Sie auf die Zahlen sehen: Von 6,7 Millionen (im Jahre 1870) auf 79 Millionen Pferdekraftjahre (im Jahre 1912) in wenigen Jahrzehnten ist die außermenschliche mechanische Kraft (in Deutschland) gestiegen – das Verhältnis ist in den übrigen Ländern dasselbe – wie rasch ist der Ahriman gewachsen in den letzten Jahrzehnten!
Darf da nicht die Frage entstehen, ob der Mensch ganz verlieren soll, was in seinen Willen gestellt ist, was in seine Initiativkraft gestellt ist? Die Frage kann gestellt werden, ob denn der Mensch immer mehr der Illusion entgegengeführt werden soll, er mache die Dinge, während in Wahrheit die ahrimanischen Kräfte, die man nach Pferdekraftjahren berechnen kann, gegeneinander arbeiten? Denjenigen, der die Welt überschaut, interessiert nur vom moralischen Standpunkte aus etwa Foch und Ludendorff und Haig.[4] Vom Standpunkte der vollen Realität interessieren ihn diejenigen Kräfte, die aus der Kohle[5] kommen und die an den Fronten aufeinanderprallen, die aus den mechanischen Werkstätten an die Fronten geführt werden, je nach den Erfindungskräften der vorherigen Jahre, und die zu einem einfachen Rechenexempel machen, was geschehen muss.
Somit ist das Ahrimanischwerden der Welt ein einfaches Rechenexempel, um zu wissen, was geschehen muss. Und wie steht der Mensch daneben? Er kann ja als der Dumme daneben stehen, dem zuletzt seine Maschinen entgegenlaufen, wenn er noch etwas kompliziertere Kombinationen von Kräften findet.“[6]
Hier deutet Rudolf Steiner im Jahre 1920 etwas an, was erst jetzt, knapp 100 Jahre später „volle Realität“ geworden ist, nicht nur in den weltweiten Kriegen, sondern im friedlichen Alltag: wenn man durch die Stadt geht und die Menschen bewusst anschaut, die im Gehen mit ihrem Smartphone kommunizieren, dann kann man schon den Eindruck haben, dass die Maschinen den Menschen „entgegenlaufen“.



[3] Das über ganz Mitteleuropa seit Wochen lagernde Hoch – gestern sah ich im Wetterbericht nach dem Heute-Journal die entsprechenden Sattelitenbilder – führt dazu, dass die kühlen Nächte in diesen Oktobertagen sternenklar sind und jeder, der seinen Blick nach oben richtet, die Schönheit der Sternenwelt wahrnehmen kann. 
[4] Der französische Heerführer Ferdinand Foch (1851 – 1929) und der deutsche General  Erich Ludendorff (1865 – 1937), beide unmittelbare Zeitgenossen Rudolf Steiners, werden in dem im letzten Jahr erschienen Buch „Kometenjahre – 1918, Die Welt im Aufbruch“  des Berliner Historikers Daniel Schönpflug aus dem S. Fischer Verlag, das ich zurzeit lese, anschaulich geschildert, nicht jedoch der hier angeführte britische General Douglas Haig (1861 – 1928).
[5] Rudolf Steiner spricht hier den fossilen Brennstoff „Kohle“ an. Mit der Kohle wird in den Hüttenwerken das Eisenerz geschmolzen und zu Stahl verarbeitet. Man könnte jedoch im Anschluss an Raphael Cohen auch vom Erdöl sprechen, das als Diesel oder Benzin für den Antrieb der Maschinen, also der Automobile, notwendig ist.
[6] Rudolf Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen – die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia, Sechzehn Vorträge, GA 202, Dornach 1988, S 51f.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen