Donnerstag, 13. Februar 2020

Das Schweigen brechen - Recherchen zum GULAG



Naftali Frenkel (ganz rechts) beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals 1932 (Quelle: Wikipedia)

Ich bin immer noch wie gelähmt von der Dokumentation über den GULAG, die mir die Augen über das unvorstellbare Leid des russischen Volkes noch weiter geöffnet hat, auch wenn dieses Öffnen nur Tränen erzeugen kann. Doch muss ich es ertragen wie so vieles andere auch. Wieder werde ich mit einem „beispiellos Bösen“ konfrontiert, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, in dessen zweiter Hälfte ich aufgewachsen bin – in Frieden und Sicherheit. Die unvorstellbaren Gräuel kenne ich nur aus dem „Hörensagen“ und aus solchen Filmen wie dem von Patrick Rotman. Warum wurde meine Generation bisher nur so behütet!? Warum blieben mir bisher die „Lager“ erspart?
Ich lese jetzt Alexander Solschenizyns erstes Buch, „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“ aus dem Jahre 1962, um einen realistischen Eindruck vom Lagerleben im GULAG zu bekommen.
Warum ich mir das antue?
Ich fühle mich als glücklicher Nachgeborener verpflichtet, mich in das unvorstellbare Leid einzufühlen. Ich denke, dieses Mitgefühl haben die Gefolterten und Getöteten verdient.
Und ich versuche, das „Böse“ zu verstehen.
Das Böse, das auch heute vor 75 Jahren wieder zuschlug, als alliierte Bomberverbände die Stadt Dresden in Schutt und Asche legten und Tausende Frauen, Männer und Kinder in den „Feuersturm“ schickten, in die Hölle auf Erden.
Erich Kästner, mein verehrter Schriftstellerkollege, ist in der Stadt an der Elbe aufgewachsen. In seinen Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ schrieb er über seine Stadt:
„Wenn es zutreffen sollte, dass ich nicht nur weiß, was schlimm und hässlich ist, sondern auch, was schön ist, so verdanke ich diese Gabe dem Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein. Ich durfte die Schönheit einatmen wie Försterkinder die Waldluft.“
Nach der Zerstörung schrieb er:
„Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorrha. (...) Es ist, als fiele das Herz in eine tiefe Ohnmacht.“

Nun habe ich mir einmal die Mühe gemacht, auf Google unter dem Stichwort „Gulag+Patrick Rotman“ nach Rezensionen bzw. Kritiken der dreiteiligen Dokumentation über den sowjetischen GULAG, den Arte am Dienstagabend ausstrahlte und der noch bis zum 10. April 2020 in der Arte-Mediathek verfügbar ist, zu suchen. Aufgefallen ist mir, dass die großen deutschen Tageszeitungen von der „FAZ“, über die „Süddeutsche Zeitung“ und die „TAZ“ bis zur "Bild" die Sendung mit keiner Silbe erwähnen. Lediglich in den Magazinen „Stern“ (online) und "Fokus", nicht aber im "Spiegel" kam eine Besprechung, nicht zu vergessen, die „Stuttgarter Zeitung“ und einige kleinere Regionalzeitungen, die jedoch alle den gleichen dpa-Text abdruckten.
Ich finde, dieses Schweigen spricht Bände.
Interessant finde ich folgende Passage aus der Besprechung des „Stern“:
„Um die schrecklichen Haftbedingungen zu belegen, greifen die drei Filmemacher Patrick Rotman, Nicolas Werth und François Aymé auf Augenzeugenberichte zurück, die die russische NGO-Vereinigung «Memorial»[1] zwischen 1988 und 2014 gesammelt hat. Die Strapazen stehen den Opfern noch in hohem Alter ins Gesicht geschrieben. Teilweise unter Tränen erzählen sie von Willkür und drakonischen Strafen, von Vergewaltigungen, Hunger und Seuchen.“[2]

Einer der drei Autoren, Nicolas Werth, gilt in Frankreich als Spezialist für die Geschichte der Sowjetunion, wie ich aus einem (nur für Abonnenten reservierten) Beitrag aus „Le Monde“ vom 16. Februar 2019 erfahre:

« Directeur de recherche au CNRS jusqu’à sa retraite en 2015, Nicolas Werth est un des plus grands spécialistes français de l’histoire de l’URSS. Il publie Le Cimetière de l’espérance, série d’articles parus dans le mensuel L’Histoire entre 1981 et 2016, qui offrent une synthèse accessible des connaissances réunies dans ses livres fondamentaux (Etre communiste en URSS sous Staline, Gallimard, 1981 ; La Terreur et le Désarroi. Staline et son système, Perrin, 2007…). »[3]

Der „Tagesspiegel“ schreibt:

„Die Häftlinge mussten oft unerreichbare Arbeitsnormen erfüllen, aber an menschlichem Nachschub mangelte es ja nicht. Rotman konnte auf Zeitzeugen-Interviews zurückgreifen, die die einst von Andrei Sacharow gegründete Nichtregierungsorganisation Memorial führte: Man sieht alt gewordene, vom Leben gezeichnete Frauen und Männer, die sich an ihre Lager-Jahre erinnern, an den Hunger, die schwere Arbeit, die Folter, die sexuelle Ausbeutung der Frauen, die Hinrichtungen. Oder die an jenen Tag zurückdenken, als ihre Mütter und Väter in den Tagen des „Großen Terrors“ 1937/38 abgeholt wurden. 1,5 Millionen Menschen wurden in jener Zeit in den Gulag verfrachtet.“[4]
Auch das überregionale „Abendblatt“ sowie „focus.de“ übernehmen diesen Pressebericht unverändert.[5]

Die Geschichte interessiert mich weiter und nun recherchiere ich in den offiziell zugänglichen Medien, sprich „Wikipedia“. Unter dem Stichwort „Solowezki-Inseln“ finde ich in einem Eintrag folgenden Satz:

„Die geografische Lage des Archipel Solowezki sowie die Tatsache, dass sich im Kloster bereits ein Gefängnis befand, spielten eine Rolle für die Entstehung der Lager. Alle klösterlichen Einrichtungen und Einsiedeleien auf der Insel wurden durch die sowjetischen Behörden in Lagereinrichtungen umfunktioniert.“

Was mit den Mönchen geschah, wird nicht erwähnt. Vermutlich waren es die ersten Lagerinsassen, wenn sie nicht getötet worden sind, wie es bei der Auflösung von vielen Klöstern geschehen ist. Religion war für die Bolschewiki nach Meinung von Lenin „Opium für das Volk“.

Wikipedia weiter:

"Bereits im Mai 1920 entstand im Kloster ein Arbeitslager, das ab 1923 der Verwaltung der Nördlichen Lager unterstellt wurde. Im Oktober 1923 entstand das ‚Solowezki-Lager zur besonderen Verwendung‘ (SLON) sowie USLON, die ‚Verwaltung der Solowezki-Lager zur besonderen Verwendung‘ mit den ersten 130 Insassen. Beide unterstanden der OGPU in Moskau. Eine ‚Spezialabteilung‘  innerhalb der OGPU hatte die Zuständigkeit der Lager inne.“[6]

Nun verstehe ich auch, wieso Arte die Dokumentation über den GULAG ausgerechnet zu Beginn dieses Jahres zeigt: Wenn man das Jahr 1920 als Begründung des ersten Lagers nimmt, so kommt man in diesem Jahr 2020 auf eine Runde Zahl – 100 Jahre.

In Wikipedia lese ich weiter:

„Eine wesentliche Rolle als Organisator des Solowezki-Straflagers zu einem Modell für den ganzen GULAG spielte Naftali Frenkel (1883 – 1960). Das Motto über dem Eingangstor lautete: ‚Lasst uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben.‘“[7]

Auch über Naftali Aronowitsch Frenkel kann man Interessantes in einem Wikipedia-Eintrag lesen:

„Frenkel war jüdischer Herkunft und stammte ursprünglich aus dem Osmanischen Reich oder aus Odessa, der Geburtsort ist unklar. Er wurde wegen ‚illegalen Grenzübertritts‘ entweder als Schmuggler oder als erfolgreicher Geschäftsmann im Jahr 1923 zu zehn Jahren Zwangsarbeit auf den Solowezki-Inseln verurteilt. Dort traf er 1924 oder 1925 ein und brachte es innerhalb kürzester Zeit zum Chef der Betriebs- und Handelsabteilung.
In dieser Zeit erdachte er einen Plan zur ‚wirtschaftlicheren‘ Ausbeutung der Häftlinge. Von ihm stammt der Ausspruch: ‚Aus Häftlingen müssen wir alles in den ersten drei Monaten herausholen – danach brauchen wir sie nicht mehr.‘ Dazu kam die Idee, die Essensrationen an die Erfüllung der Arbeitsnormen beziehungsweise die Arbeitsleistung zu koppeln.
Ob es jemals zu einem Gespräch zwischen Frenkel und Stalin kam, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass Frenkel mit den Oberen der OGPU zusammenkam, ihnen seine Pläne zeigte und man ihm danach freie Hand ließ.
Zwischen 1931 und 1933 hatte er die Aufsicht über den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, Aufseher im BelBaltLag – ‚für einen ehemaligen Gefangenen ein unerhörter Aufstieg‘. Dort nahm seine Karriere einen weiteren Aufstieg. Beim Bau des Kanals starben mindestens 25 000 Menschen. Die Arbeitssklaven bekamen täglich etwa 1300 Kilokalorien an Nahrung. Nach Fertigstellung des Kanals kam er zur Baikal-Amur-Magistrale, bis er später für die Leitung der Hauptverwaltung der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken (GULShDS) verantwortlich wurde.
Frenkel wurde mit dem Orden Held der sozialistischen Arbeit und dreimal mit dem Leninorden ausgezeichnet.“[8]

Wenn ich diese Kurzbiographie kommentieren soll, so fällt mir ein, dass der vergleichbare NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann (1906 - 1962) nach einem Schauprozess in Jerusalem am 1. Juni 1962 im Ajalon Gefängnis in Ramla, Israel, hingerichtet wurde. Naftali Frenkel, ein ähnlicher Kriegsverbrecher, wurde im Sowjetstaat hoch dekoriert und lebte bis 1960 in Moskau, wo er mit 77 Jahren starb.



[1] Gegründet von Andrej Sacharow
[7] Ebenda

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