Sonntag, 8. März 2020

Unterwelt und Oberwelt (Dritter Teil)



Marie Steiner-von Sivers 1903

Durch die merkwürdige Koinzidenz des Engagements Raphaelas in den vergangenen zehn Tagen einerseits für ihre Mutter, andererseits für die Operette „Orpheus in der Unterwelt“ habe ich mich in den vergangenen Tagen weniger um Facebook und Co. gekümmert, sondern mich mit dem Orpheus-Mythos beschäftigt. Dazu habe ich auch in dem Buch „Die großen Eingeweihten“ von Eduard (!) Schure das Kapitel über Orpheus wieder gelesen, das ich nach der Zeitangabe am Rande meiner gebundenen Ausgabe bereits im August 1979, also noch vor der Geburt unseres ältesten Sohnes, gelesen und teilweise (rot) unterstrichen hatte. Die Ausgabe aus dem Otto Wilhelm Barth-Verlag war 1965 erschienen und ich habe sie am 11. Januar 1974 bei Konrad Wittwer in Stuttgart gekauft. Drei Vorworte von Rudolf Steiner zu den jeweils neuen deutschen Auflagen leiten die Ausgabe ein. Die Übersetzung des Klassikers der esoterischen Literatur ins Deutsche stammt von Marie Steiner-von Sivers. Meine Ex-Frau besaß die französische Taschenbuchausgabe.
Weil es so schön geschrieben und übersetzt ist, möchte ich hier den Anfang des Kapitels zitieren:
„In den Heiligtümern des Apollo, welche die orphische Tradition besaßen, wurde zur Zeit der Frühlingswende ein geheimnisvolles Fest gefeiert. Es war der Augenblick, da die Narzissen neben dem Brunnen von Kastalien wieder blühten. Die Dreifüße, die Lyren des Tempels erzitterten durch sich selbst, und man empfand, dass der unsichtbare Gott aus dem Land der Hyperboräer zurückkehre auf einem von Schwänen gezogenen Wagen.“
Mit dem unbekannten Gott ist natürlich Apollo gemeint, von dem Rudolf Steiner im „Fünften Evangelium“ sagt, dass er in Wirklichkeit der Sonnengeist Christus ist. Das geheimnisvolle Land der Hyperboräer, aus dem auch Herkules in einer seiner zwölf Aufgaben „goldene Äpfel“ holen sollte, ist wohl ein geistiges Reich, ähnlich dem Lande Schamballa der Inder. Dort ist es gewesen, wo sich Christus-Apollo dreimal mit der Schwesterseele des Adam verbunden hat.
„Dann sang die Hohepriesterin, als Muse gekleidet, mit Lorbeer bekränzt, das geweihte Stirnband auf dem Haupt, allein vor den Eingeweihten, die Geburt des Orpheus, des Sohnes des Apollo und einer Priesterin des Gottes. [1] Sie rief die Seele des Orpheus an, des Vaters der Mysten, des melodischen Erlösers der Menschen[2]; Orpheus des Herrschers, des unsterblichen und dreimal gekrönten, in der Hölle, auf Erden und im Himmel, der dahinwandelt, einen Stern auf der Stirn, zwischen den Gestirnen und den Göttern.“ (S 188)



[1] Orpheus gilt als Sohn Apollos und einer seiner neun Musen: Kalliope, die Muse der Musik
[2] Als „Erlöser“ wird in der Tradition immer nur Christus bezeichnet. Ich finde die Vorstellung von der Erlösung durch Musik und Poesie besonders reizvoll und denke dabei an Novalis, den großen deutschen Poeten, der den Göttern wahrlich nahe war und das Leben der Menschen in den „Geheimniszustand der Poesie“ setzen wollte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen