Samstag, 14. März 2020

Betrachtungen zur Corona-Krise


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Neulich war ich kurz im Kaufland-Einkaufszentrum, um etwas zurückzugeben. Ich kaufte fünf Bio-Bananen und stellte mich damit in die Schlange vor der Kasse. Das ältere Ehepaar vor mir hatte mehrere Packungen „Schwäbische Spätzle“ im Einkaufswagen, andere Klopapier oder Küchenrollen. An der Parallel-Kasse stand eine Oma mit ihrem Enkelkind. Weil es die Mütze tief über die Stirn, fast bis zu den Augen gezogen hatte, konnte ich nicht erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Das etwa siebenjährige Kind sang in einem fort „Jingle Bells“ und konnte nicht mehr aufhören. Alle drehten sich nach ihm um, weil es etwas merkwürdig war, im März ein Weihnachtslied zu hören. Weil ich mit meinen fünf Bananen länger warten musste, hatte ich das Vergnügen, diesen amerikanischen Schlager gefühlte zwanzigmal anhören zu dürfen. Keiner der Kunden war auf die Idee gekommen, mich vorzulassen, obwohl alle volle Wägen hatten und ich nur Bananen für 1,73 Euro. Über der Kasse hing ein Schild: „Wenn möglich mit Karte bezahlen“. So malte ich mir im Warten eine kleine Horrorgeschichte aus:  Ich stellte mir vor, dass das Chorona-Virus die Menschen mutiert hätte: die Erwachsenen waren noch egoistischer geworden und die Kinder verwechselten die Zeiten. So hörte ich plötzlich „Jingle Bells“ nicht nur im Kaufland, sondern in allen Supermärkten und Einkaufszentren von Aldi bis Lidl, von Penny bis Norma, in denen die Erwachsenen, angesteckt von Virusangst, Nudeln und Toilettenpapier „hamstern“. Und Siebenjährige Kinder singen Jingle Bells als neue Hymne des Virus: „Jingle all the way!“

Es wird immer verrückter: Nun wurde gestern, am Freitag, den 13. beschlossen, Schulen und Kindergärten ab kommenden Montag bzw. Dienstag bundesweit zu schließen, vermutlich bis zu den Osterferien, also länger als einen Monat. Auch in der Waldorfschule in Aalen wird ab nächsten Dienstag kein Unterricht mehr stattfinden, erfuhr ich gestern von meinem Sohn. Meine Enkelin kann nicht mehr in den Kindergarten gehen. Ob meine Kurse auch ausfallen, weiß ich noch nicht. Es wäre eine kleine Katastrophe für mich, denn ich rechne fest mit den Honoraren, die mich endlich aus meiner Schuldenkrise befreien würden. Auch Raphaelas Auftritte wurden alle abgesagt. Für die Künstler soll es zumindest einen Sozialfonds geben.
Aber andererseits verstehe ich die Vorsichtsmaßnahmen. Nur so kann man die Ausbreitung der Pandemie verhindern.
Allerdings frage ich mich immerzu, wieso diese Seuche gerade jetzt die gesamte Menschheit befällt. Der Zeitpunkt zu Beginn des Frühlings, inmitten der christlichen Passionszeit, die manche auch zum Fasten benützen, erinnert mich an das Eingreifen einer höheren Macht. Ich versuche immer, die Dinge von ihrer spirituellen Seite und positiv zu sehen. So denke ich, dass für viele Menschen solch eine Unterbrechung ihres angespannten Arbeitslebens eine Möglichkeit darstellt, zur Besinnung zu kommen und sich auf etwas Wesentliches zu konzentrieren. Das rastlose, ungebremste Leben, das alle in seinen Wirbel zu ziehen droht, steht scheinbar einen Moment lang still, und zwar weltweit. Wir Menschen haben jetzt die Chance, dem „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio) zu entkommen und uns neu zu sortieren. Es wird weniger geflogen, es wird weniger Auto gefahren: die Umwelt dankt es uns. Die Tage werden wieder länger, wir verbrauchen weniger Strom: auch das kommt der Umwelt zugute. Das Wichtigste aber für manche Menschen scheint zu sein, genügend Klopapier, Nudeln und Mehl in der Küche oder in der Toilette zu haben.
Wenn nun zum Beispiel die isolierten Bewohner in den Städten Italiens beginnen, von ihren Balkonen aus zu singen, dann wäre das in meinen Augen eine sinnvolle Betätigung. Der Phantasie sind jetzt keine Grenzen gesetzt, die Krise kreativ zu nützen.
Gestern habe ich mit Lena Steven Soderberghs Endzeit-Vision „Contagion“ aus dem Jahre 2011[1] angeschaut, in der erzählt wird, wie eine weltweite Pandemie Millionen von Menschen dahinrafft. Der Film ist sicher, im Vergleich zu dem, was wirklich passiert, übertrieben, aber er scheint erstaunlich aktuell: die Ursache der Pandemie liegt in der Übertragung des Virus von einer in China heimischen Fledermausart auf Schweine und von dort auf Chinesen, die Schweinefleisch gegessen haben.
Wenn die Krise dazu beitragen würde, dass weniger (Schweine-) Fleisch verzehrt werden würde, dann wäre das auch ein positiver Effekt.

Seit zwei Monaten beziehe ich täglich die Bildzeitung im Abonnement. Nur wer einmal dieses Experiment macht, kann sich, so meine ich, ein zutreffendes Urteil über dieses Boulevard-Blatt bilden. Natürlich bin ich in den vergangenen acht Wochen kein Fan dieser Zeitung geworden. Einen solchen radikalen Gesinnungswechsel von einem ehemaligen Sympathisanten der 68er-Jugendbewegung, der in der „Springerpresse“ die „Vorhut des Kapitals“ und den „reaktionären Geist“ der alten Bundesrepublik am Werk sah, werde ich auch heute nicht vollziehen. Ich lese sie jedoch jeden Tag und staune, wie genau die Bild-Journalisten auf die allgemeine Stimmung der „einfachen Menschen“ reagieren. Sie haben wirklich den Daumen am „Puls der Zeit“. Das ist, von einem volkspsychologischen Gesichtspunkt aus, schon interessant.
Im Januar hatte ich den zustimmenden Kommentar von Chefredakteur Julian Reichelt zur Liquidierung  von Ghassem Suleimani und sieben seiner Gefährten durch eine amerikanische Bombe noch kritisiert[2], heute kann ich den Kommentar von Matthias Döpfner einmal vorbehaltlos loben. Der Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlages schreibt auf der Titelseite der heutigen Ausgabe (vom 14.03.2020) unter der Überschrift „Die wahren Helden“:
„Die Corona-Krise lenkt den Blick auf Ärzte, Virologen und Intensivmediziner in den Krankenhäusern. Die ‚Götter in Weiß‘ stehen wieder im Mittelpunkt, weil jeder weiß, wenn es darauf ankommt, liegt unser Leben in ihrer Hand.[3] Ich danke allen Ärzten. Ich bewundere und verehre sie.[4]
Die wahren Helden aber sind für mich die Krankenschwestern und Pfleger. Sie sind es, die unsere Hand halten, wenn wir Angst haben vor einer schmerzhaften Behandlung, die uns aufmuntern, wenn wir vor einer Operation in düstere Gedanken sinken, die uns trösten, wenn wir alleine auf der Station liegen und uns einsam fühlen.
Und die unser Leben retten, wenn sie auf ihrem nächtlichen Rundgang, den sie nicht hätten machen müssen, bemerken, dass es eine Komplikation oder einen Notfall gegeben hat. Und sie sind da, wenn nichts mehr hilft. Wenn einer gehen muss.
Der Job ist hart. Oft seelisch an der Grenze des Ertragbaren. Anerkennung bekommen sie dafür meistens wenig. Die Bezahlung der 1,7 Millionen Pflegekräfte in der Kranken- und Altenpflege in Deutschland ist bescheiden: Durchschnittlich rund 2900 Euro brutto im Monat.
Eine richtige Lobby haben sie nicht. Der Glanz, das Licht der Anerkennung trifft andere und zu selten die, die selbstlos da sind, wenn es uns wirklich dreckig geht.
Nun ist Pandemie. Alle dürfen Angst vor dem Virus haben. Nur die Schwestern und Pfleger nicht. Sie müssen da sein. Jeden Tag und jede Nacht. Der Gedanke, dass auch sie erkranken können, mit viel höherem Risiko als alle anderen, wird verdrängt. Sie riskieren ihr Leben und das ihrer Angehörigen, um die Leben anderer zu retten.
Sie machen das einfach, ohne viele Worte. Ich verneige mich vor allen Krankenschwestern und Pflegern.“
Das sind schöne Worte und ich nehme sie Matthias Döpfner als ehrlich gemeint ab. Ich finde es gut, wenn einer der einflussreichsten und wohlhabendsten CEOs der Bundesrepublik einmal – zumindest jetzt in der Krise – den Blick auf die wahren „Helden“ lenkt. Und das sind all jene, die ihre tägliche Arbeit in der Pflege leisten.
Der Kommentar erinnerte mich sofort an ein Kapitel aus dem Büchlein „Die Rettung der Seele“ von Bernard Lievegoed, das ich schon mehrmals erwähnt habe und das mir in vielen Punkten aus dem Herzen spricht. Es ist das vorletzte Kapitel seines im Jahre 1992 unmittelbar vor seinem Tod auf dem Sterbebett diktierten „Testaments“: „Der siebte Tag – Die Aufgabe Manus in der Zukunft“
Dort heißt es:
„Zwischen der heutigen Sitzung und der letzten liegt ein Wochenende, in dem ich mich ausruhen konnte. Ich musste beim letzten Mal die Aufzählung von Berufen, die in der Mani-Strömung beheimatet sind, abbrechen. Ich möchte das noch einmal zusammenfassen.
Wir haben es hier in erster Linie natürlich mit der Heilpädagogik zu tun. Aber auch mit anderen Pflegeberufen, zum Beispiel in Krankenhäusern. Es entstehen in dieser Strömung ja laufend neue Berufe, wie zum Beispiel die ‚buddies‘ in der Aids-Hilfe und die Menschen, die sich der Begleitung von Sterbenden widmen. Dann gibt es die Psychotherapeuten, die künstlerischen Therapeuten, die Physiotherapeuten und so weiter. All diese Menschen beschäftigen sich eine Weile mit anderen, die in Not sind. Eine wichtige Gruppe bilden alle Mütter dieser Welt, die viele Jahre ihres Lebens den Kindern schenken.“
Das Charakteristische dieser Strömung ist der selbstlose Einsatz für andere auf der einen Seite und die Selbstverständlichkeit, mit der diese Leute – ohne Berechnung – ihre soziale Arbeit leisten. Rudolf Steiner nimmt einmal das Beispiel der „sozialen Berufe“, um zu veranschaulichen, dass Arbeit keine Ware ist. Soziale Dienstleistungen sind nicht bezahlbar.
Wie will man auch die Rettung eines Lebens in Geld beziffern?



[3] Das haben wir am 27. Februar 2020 erlebt, als meine Ex-Frau mit einem Herzinfarkt in die Intensivstation des Ostalbklinikums eingeliefert wurde, einen Herzstillstand erlitt, reanimiert und operiert werden musste. Die dortigen Ärzte haben ihr das Leben gerettet. Ihnen sei Dank, dass sie nun zweimal Geburtstag feiern darf.
[4] Diese Worte berühren mich. Ich empfinde sie als wahr und ehrlich.

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