Samstag, 7. März 2020

Unterwelt und Oberwelt (Zweiter Teil)




Heute Morgen bin ich mit der Melodie einer Arie aufgewacht, die einstmals Raphaela so wunderschön gesungen hat: es ist die französische Fassung des Klagelieds des Orpheus aus der Oper „Orpheus und Eurydike“ von Christoph Willibald Gluck aus dem Jahre 1774 (Pariser Fassung)[1]: „J’ai perdu mon Eurydice“. Immer wieder erklingt in der Arie der Klageruf: „Rien n'egale mon chagrin!“
Die Arie ist ein reiner Ohrwurm, aber sie drückt das Gefühl sehr gut aus, das ich etwa eine Woche lang hatte: die Klage um meine Exfrau, die am Donnerstag Gottseidank aus dem Totenreich zurückgekehrt ist.
Gestern schaute ich mit Lena spontan die Adaption des antiken Mythos durch Jean Cocteau an, der in seinem 1950 in die Kinos gekommenen Film „Orphee“ aus dem Jahre 1949 einen modernen Dichter (gespielt von Jean Marais) zeigt, der sich in den Tod („Princesse La Mort“, gespielt von Maria Cesares) verliebt, der seine Liebe erwidert und ihm die Frau Euridice (gespielt von Maria Dea) raubt, damit er allein „ihm“ gehört. Im Französischen ist der Tod weiblich; deshalb wird er von einer edlen Dame dargestellt, die es auf den eitlen Dichter abgesehen hat.
Ganz überzeugt hat mich die filmische „Jenseitswanderung“, die der Künstler Jean Cocteau „als Gedankenspiel und Symbolinszenierung“ geschaffen hat, nicht, auch wenn es natürlich, rein intellektuell, reizvoll ist, all die Symbole, die in dem Film auftreten, zu deuten. Lena in ihrer gesunden Art konnte dem Film bis zum Ende nichts abgewinnen und sagte zum Schluss, als „La Mort“ und Merkur-Heurtebise „abgeführt“ werden, um vor eine höhere Instanz zu treten, deren Gesetze sie verletzt hatten, ganz trocken: „Der Tod wirft keine Schatten!“ Vielleicht hat sie ihn nur deshalb zu Ende angeschaut, weil auch die junge Juliette Creco, die wir 2016 in Paris bei einem Konzert erlebt haben, mitgespielt hat. Die Sängerin tritt in der Rolle einer feministischen Freundin von Eurydice auf, die Orphees Frau im Sinne Simone de Beauvoirs beeinflusst, damit sie mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem dominierenden Poeten erlangt.[2]
In der Gestalt des „Orpheus“ malt Jean Cocteau (5.7.1889 – 11.10.1963) mit Sicherheit ein Selbstporträt, denn der auf vielen Gebieten tätige, bisexuelle Künstler war sehr von sich selbst überzeugt. So macht Orphee im Film einen Unterschied zwischen „Schriftsteller“ und „Dichter“ (Poet), wenn er sagt: „Dichten heißt, den Göttern nahe zu sein.“
Sicher war diese Aussage keine Banalität und ich denke, er meinte es ehrlich. Aber seine Jenseitsvorstellungen sind dennoch eher surrealistische Spielereien und haben nichts mit den Erlebnissen der menschlichen Seele nach dem Tode, wie sie in den Schilderungen von Rudolf Steiner deutlich werden, gemein. Die Toten wandeln in Cocteaus Film eher durch ein alptraumhaftes Spiegelkabinett, in dem vier böse Richter herrschen. Von der Lichtgestalt, die so viele vom Tode Zurückgekehrten beschreiben, findet sich in Cocteaus Film keine Spur.
Jean Cocteau kann man zunächst schwer einordnen. Einerseits wurde er in Frankreich als „Dichterfürst“ gefeiert, 1955 sogar in die „Academie Francaise“ aufgenommen. Andererseits nahmen ihm viele Franzosen die Freundschaft zu dem deutschen Bildhauer Arno Breker übel, der auch für das Hitler-Regime gearbeitet hat.
Auch von den Surrealisten wurde Jean Cocteau nicht hundertprozentig anerkannt. Andre Breton, der selbsternannte Führer dieser Gruppe, nannte ihn 1953 einen „notorischen falschen Dichter, einen Versmacher, der alles, was er berührt, entwertet statt aufwertet.“
In dem Buch „Der Heilige Gral und seine Erben“ von dem Autorentrio Henri Lincoln, Michael Baighent und Richard Leigh (1982) lese ich:
„Cocteau, der einer Familie angesehener Juristen und Politiker entstammte, verließ mit Fünfzehn sein Elternhaus und stürzte sich in die Subkultur von Marseille. Als Zwanzigjähriger hatte er sich in der Boheme etabliert und verkehrte mit Proust, Gide und Barres. Einer seiner Freunde war Victor Hugos Urenkel Jean, dessen spiritualistische und okkulte Vorlieben er teilte. Spätestens seit 1912 stand er in regem Kontakt mit Debussy, den er häufig, wenn auch unverbindlich in seinen Tagebüchern erwähnt. Im Jahre 1926 entwarf Cocteau das Bühnenbild für eine Aufführung der Oper „Pelleas et Melisande“, weil er, wie ein Zeitgenosse bemerkte, ‚der Versuchung nicht widerstehen konnte, seinen Namen für alle Zeiten mit dem Claude Debussys zu verbinden.‘“ (Taschenbuchausgabe, 11. Auflage 2005, S. 129)
Die drei Autoren machen ihn zu einem der Großmeister der geheimnisvollen Bruderschaft „Prieure de Sion“ und erläutern, dass alle Großmeister des Ordens mit Vornamen „Jean“ (Johannes) hießen, weil sie sich nicht in der Tradition des Apostels Petrus, sondern in der Tradition des „Jüngers, den der Herr liebhatte“ sahen.
Ich habe an anderer Stelle bereits festgestellt, dass ich diese Parallelorganisation der Templer für ein Konstrukt und den ganzen Zirkus um die sogenannten „Dokumente“ („Dossiers secrets“), die die Existenz eines solchen Ordens beweisen sollen, für eine Mystifikation halte. Dennoch finde ich es interessant, dass der Franzose, der sich in einem Zeitraum von 30 Jahren und in drei Filmen mit dem Mythos von Orpheus beschäftigt hat („Le Sang d’un Poete“, 1930, „Orphee“, 1949/50 und „Le Testament d’Orphee“, 1960) von dem Trio zum „Großmeister des Ordens“ erklärt wird.
Ich halte den Künstler, dessen Adaption des Barockmärchens „La Belle et la Bete“ von Madame Leprince de Beaumont in einer ersten Kinoversion im Jahre 1946 mir einst sehr viel bedeutet hat, eher für einen „Verführer“ und einen „in dunkle Gefilde verirrten“ Geistessucher, der durch seine Opiumsucht die sicher vorhandenen Anlagen korrumpiert hat. Er hat zwar auch einige Kapellen ausgemalt, so zum Beispiel diejenige von Milly La Foret südlich von Paris, in der er seine letzte Ruhestätte gefunden hat, aber sein Verhältnis zum Christusimpuls war offensichtlich eher ambivalent, wie ich folgender Schilderung aus dem oben erwähnten „Gralbuch“ entnehme:
„Gleich Sauniere verwandte Cocteau zum Beispiel bei seinen für Kirchenräume bestimmten Arbeiten mitunter eigenartige und vieldeutige Motive, von denen einige in der Kirche Notre Dame de France in London zu bewundern sind. Die 1865 erbaute Kirche wurde 1940 durch Bomben zerstört und nach dem Krieg von französischen Künstlern restauriert und neu ausgestaltet. 1959 schuf Cocteau für dieses Gotteshaus eine Reihe von Wandgemälden, darunter auch eine höchst sonderbare Darstellung der Kreuzigung Christi. Die Sonne ist schwarz, und in der rechten unteren Ecke steht eine düstere, grün getönte, nicht weiter erkennbare Gestalt. Ein römischer Soldat trägt einen Schild mit der heraldischen Darstellung eines Vogels (eine Anspielung auf Horus?). Unter den wehklagenden Frauen und den würfelnden Zenturionen befinden sich zwei im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts gekleidete Männer, von denen einer Cocteau selber ist. Bemerkenswerterweise kehrt er dem Kreuz den Rücken zu. Am auffallendsten aber ist der Ausschnitt, den das Wandgemälde zeigt: Man sieht nur den unteren Teil des Kreuzes (bis zu den Knien des Gekreuzigten), ohne genau zu wissen, wer da ans Kreuz geschlagen wurde. Und zu Füßen des Unbekannten ist eine überdimensional große Rose am Kreuz befestigt. Kurzum: Das Gemälde ist eindeutig ein Sinnbild, und ein recht sonderbares zumal für die katholische Kirche.“ (S 130)



[1] Die italienische Fassung der Oper wurde 1762 in Wien aufgeführt.


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