Donnerstag, 14. November 2019

Der "Sündenfall" - wie die deutsche Politik seit 1999 die eigene Verfassung bricht



Als ich vorhin nachschaute, wie viele Leser ich inzwischen auf meinem Blog „Kommentare zum Zeitgeschehen“ habe, konnte ich feststellen, dass mein Eintrag vom 4. Oktober 2019 über „Die spirituellen Hintergründe des Mauerfalls“[1] inzwischen die meisten Klicks hat, nämlich exakt 100. Das freut mich natürlich, auch wenn ich mich keinen Illusionen darüber hingebe, dass meine Gedanken dazu von irgendwelchen Leuten gelesen werden, die am politischen Geschehen unmittelbar beteiligt sind.
Einer dieser Menschen ist Willy Wimmer, dessen neuestes Buch „Und immer wieder Versailles – Ein Jahrhundert im Brennglas“ (Verlag Zeitgeist, Höhr-Grenzhausen Mai 2019) ich eben mit zunehmendem Interesse lese. Die Tatsache, dass er viele Politiker aus eigener Anschauung, ja aus Gesprächen in seiner Funktion als ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium kennt und dadurch authentisch berichten kann, gibt mir Vertrauen in seine fachliche Kompetenz. Außerdem ist er ein Mensch, der in großen Zusammenhängen denkt, was ich bei den meisten Politikern leider vermisse, und was daher meinem Eindruck nach eher eine Ausnahme ist. Ein anderer Ausnahmepolitiker war der kürzlich verstorbene Haller Ehrenbürger Erhard Eppler, dem ich schon mehrere Kommentare auf meinem Blog gewidmet habe.
Willy Wimmer, Jahrgang 1943, schreibt zu den Hintergründen der deutschen Wiedervereinigung, die vor 30 Jahren mit dem Mauerfall möglich wurde:
„Ende September 1989 kam ich mit dem Sicherheitsberater von Generalsekretär Gorbatschow, mit Marschall Achromejew, im Kreml zusammen. Er sprach von der deutschen Wiedervereinigung und fragte mich, ob ich denn nicht wisse, was beim Besuch von Gorbatschow im Juni 1989 zwischen ihm und Helmut Kohl besprochen worden war. Natürlich hatte mich der Bundeskanzler in diese Dinge nicht eingeweiht. Aber für mich und meine Begleitung war damals klar, zurück in Bonn können wir sagen: Wir bekommen die Einheit. Damals lehnte sich in Westdeutschland, abgesehen von Helmut Kohl und vielleicht noch Willy Brandt und Egon Bahr, niemand aus dem Fenster, was den Gedanken an die Wiedervereinigung anging, jedenfalls nicht öffentlich. In Moskau aber, Ende September, Anfang Oktober 1989 sprachen alle in der deutschen Botschaft von der Wiedervereinigung. Ich habe mich, abgesehen von der nächsten Kabinettssitzung, nicht getraut, in Bonn darüber zu berichten, weil ich dachte, das glaubt mir doch keiner. Folgende Überlegungen stellte ich damals an, wie es denn mit Deutschland weitergehen sollte. Für mich war das wie ein immanenter, schnell ablaufender Film, und in Anbetracht meiner Verantwortung als Mitglied des Kabinetts wollte ich dazu einen Beitrag leisten in Übereinstimmung mit meinem politischen und historischen Verständnis von Europa. Genau deshalb hatte ich dem Bundeskanzler vorgeschlagen, Deutschland solle in der NATO bleiben, wir stationieren nur deutsche Truppen[2] auf dem Territorium der noch bestehenden DDR, und unter keinen Umständen unternehmen wir etwas östlich der Oder[3]. Weil das Gebiet zwischen der sowjetischen Westgrenze und der Oder in meinem Verständnis das sensibelste in Europa war, und das seit dem Ersten Weltkrieg. Daher konnte man da nur mit kluger Politik des Ausgleichs, der Verständigung und ökonomischer Unterstützung[4] tätig werden, ohne die Geister der Vergangenheit hervorzurufen. In meinem Buch ‚Die Akte Moskau‘ habe ich darüber geschrieben und die entsprechenden Dokumente abgedruckt. Es ist ja alles nachzulesen. Das war die Entwicklung damals. Heute aber erleben wir einen eklatanten Verstoß gegen das, was in den Verträgen zur deutschen Wiedervereinigung, im 2plus4-Vertrag drinsteht, es verstößt gegen die eigene deutsche Verfassung und offenbart unsere anscheinend nicht zu unterdrückende Neigung, uns weltweit an völkerrechtswidrigen Kriegen im Auftrag der Vereinigten Staaten[5] zu beteiligen. Und dann erwartet man vom einzelnen Bürger Rechtsverständnis? Und Einhaltung geltender Gesetze? Wenn doch staatlicherseits – von der Verfassung bis zum Soldatengesetz – alles missachtet wird, was in diesem Feld festgelegt worden ist, und zwar, bis wir wieder am Boden liegen. Das macht die Tragik unseres Landes aus.“ (S 129f)



[2] Hervorhebung von mir
[3] Hervorhebung von mir. Der deutsche Schicksalsfluss Oder ist mir dadurch vertraut, dass sowohl mein Vater als auch meine Mutter ihre Kindheit und Jugend unmittelbar an diesem Fluss verbracht haben, mein Vater in dem Städtchen Dyherrnfurt (heute Polnisch: Brzeg Dolny) und meine Mutter in Breslau (Polnisch: Wroclaw). Mein Großvater Dr. Waldemar Rumbaur, der lange Zeit stellvertretender Bundesvorsitzender der „Landsmannschaft Schlesien“ war und in dieser Funktion viele Beiträge in unterschiedlichen Zeitungen veröffentlicht hat, die sich mit der „Oder-Neiße-Grenze“ und dem Potsdamer Abkommen der vier Siegermächte beschäftigen, war einer jener Menschen, die zu den berühmten Politikern jener Zeit (Bundeskanzler Adenauer, Willy Brandt und vielen anderen) persönlichen Kontakt hatte.
[4] Wie feinsinnig Willy Wimmer die Worte wählt, kann einem beim (zweiten) Lesen deutlich werden: Die Trias der Begriffe deutet auf die drei Ideale der Französischen Revolution hin, die Rudolf Steiner aufgreift und in seinen „Kernpunkten zur sozialen Frage“ (1917) an ihren wirklichkeitsgemäßen Platz rückt. Im Wort „politischer Ausgleich“ leuchtet das Ideal der „Gleichheit“ im „Politischen Leben“, im Begriff der "Verständigung" das Ideal der Freiheit im Geistesleben, ohne die keine wahre Verständigung möglich ist, und im Begriff „ökonomische Unterstützung“ das Ideal der Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben auf.
[5] Willy Wimmer weist in dem Buch nach, dass es seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das Ziel gewisser angelsächsischer Zirkel war, Deutschland als Konkurrenten auf den Weltmärkten auszuschalten, ja gegebenenfalls ganz zu vernichten. Dafür wurden von ihnen zwei Weltkriege mit Millionen von Toten in die Wege geleitet und das „Monstrum“ Hitler an die Macht gehievt. Das Buch gibt einen neuen Blick auf die Geschichte frei, der mir schon durch die „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“ Rudolf Steiners nicht ganz unbekannt war, aber bei den meisten Menschen wohl immer noch nicht üblich ist, auch wenn sie unseren Politikern und Historikern kaum noch vertrauen, wie ich immer wieder in Gesprächen mit ganz einfachen Menschen – also nicht etwa mit Intellektuellen oder Akademikern – feststellen kann.

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